Wolodymyr Selenskyj vor den Kongress-Mitgliedern.

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Am Ende, als sich der Mann in dem olivgrünen T-Shirt mit einem kurzen Winken verabschiedet hat und auf der Leinwand nur noch ein brauner Stuhl neben der blau-gelben ukrainischen Fahne zu sehen ist, hat nicht nur Nancy Pelosi Tränen in den Augen. Sichtlich bewegt stehen die Abgeordneten, Senatorinnen und Senatoren im Washingtoner Kongress und spenden stehend Beifall. Der per Video aus Kiew zugeschaltete Gast hat eine kraftvolle, fordernde und wohl historische Rede gehalten – und er hat die Amerikaner zielgenau bei ihren Werten und Erfahrungen abgeholt.

"Erinnern Sie sich an den 11. September 2001, als unschuldige Menschen aus der Luft angegriffen wurden", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Das erfährt unser Land jeden Tag seit drei Wochen." Er erinnerte auch an den Mount Rushmore mit den überlebensgroßen Porträts der amerikanischen Gründerväter, die für Demokratie, Freiheit und Unabhängigkeit standen: "Wir in der Ukraine wollen dasselbe". Und er wandelte Martin Luther Kings berühmte Rede "I have a dream" ab: "Ich habe einen Traum. Ich habe eine Notwendigkeit. Ich muss unseren Luftraum schützen."

Nicht nur Flugverbote

Selenskyj dürfte klar sein, dass seine dringendste Bitte – die Einrichtung einer Flugverbotszone – vom Westen nicht erfüllt wird. Weil zu deren Durchsetzung auch Luftabwehrstellungen in Russland von Nato-Flugzeugen beschossen werden müssten, würde dies die westliche Allianz unmittelbar in die Kampfhandlungen hineinziehen, argumentiert US-Präsident Joe Biden seit Tagen und warnt vor einem dritten Weltkrieg. Wohl deshalb listet der ukrainische Präsident auch alternative Forderungen auf. Vor allem richtete er in den 16 Minuten einen moralischen Appell an den Westen, der zusammen mit einem schwer auszuhaltenden Video aus dem Kriegsgebiet, das ebenfalls ausgestrahlt wurde, eindrücklicher kaum sein konnte.

Doch auch die Zwischentöne waren interessant. So erwähnte Selenskyj eine mögliche Nato-Mitgliedschaft seines Landes mit keinem Wort. Als Alternative zur Flugverbotszone bat er um Flugzeuge und Langstreckenflugabwehrraketen vom Typ S-300, wie sie der Nato-Staat Slowakei besitzt. Energisch drang er zudem auf noch härtere Sanktionen: Alle US-Firmen müssten den russischen Markt verlassen, alle Politiker, die in Russland weiter im Amt bleiben, mit Strafe belegt und alle amerikanischen Häfen für russische Importe geschlossen werden.

Offene Ohren für die Ukraine

Viele dieser Forderungen treffen im Kongress auf offene Ohren. Dort hat es bereits vor dem Überfall auf die Ukraine keinerlei Sympathien für Russland gegeben. Wenn es nach den Senatoren gegangen wäre, hätte Deutschland die Nord-Stream-2-Pipeline schon vor einem Jahr beerdigen müssen. 42 Republikaner haben nun einen Brief an Biden geschrieben, in dem sie die Bereitstellung der polnischen MiG-Kampfjets an die Ukraine fordern, die das Pentagon aus Sorge vor einer Eskalation des Konflikts ablehnt.

"Die ganze Welt weiß, wofür Putin steht – er ermordet ukrainische Mütter und Babys. Die ganze Welt weiß, wofür Selenskyj steht – er kämpft für sein Land und die freie Welt. Aber die ganze Welt hört nur, wogegen die Biden-Regierung ist", ließ der eher moderate republikanische Senator Ben Sasse am Mittwoch seinem Frust freien Lauf.

Weitere Waffen versprochen

Diesen Vorwurf will Biden nicht auf sich sitzen lassen. Bei einem Pressetermin ein paar Stunden später unterzeichnet er im Weißen Haus die Bewilligung für weitere 800 Millionen US-Dollar Militärhilfe. Seit seinem Amtsantritt haben die USA bereits Waffen für 1,2 Milliarden Dollar in die Ukraine geschickt. Dabei handelt es sich vor allem um Boden-Luft- und Boden-Boden-Raketen, fünf Hubschrauber, drei Patrouillenboote und 40 Millionen Schuss Munition. Nun werden laut Biden auch hochmoderne Drohnen und Langstreckenraketen geliefert. Dabei könnte es sich nach Expertenmeinung um die von Selenskyj geforderten S 300 handeln.

Am Schluss seiner Rede wechselte Selenskyj sehr bewusst ins Englische und sprach Biden direkt an: "Sie sind der Anführer ihres Landes. Ich wünsche mir, dass Sie der Anführer der Welt sind. Anführer der Welt zu sein heißt, Vorkämpfer des Friedens zu sein." Es ist ein harter Appell. Biden nimmt die Herausforderung an. Viele Male hat er in den vergangenen Wochen mit Selenskyj telefoniert. All seine Wünsche dürfte Biden trotzdem nicht erfüllen. (Karl Doemens aus Washington, 16.3.2022)