Ungewollt schwanger: Anne (Anamaria Vartolomei) muss in "Das Ereignis" ganz allein eine Lösung finden.

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Die Kamera verliert sie niemals aus dem Blick. Die Literaturstudentin Anne (Anamaria Vartolomei) ist schwanger, nun unternimmt sie immer entschiedenere Versuche, den Zugang zu einer Abtreibung zu finden. Eine solche ist 1963 in Frankreich noch verboten, Anne muss sich daher in die Illegalität bewegen, sich gegen die Vorbehalte der Ärzte durchsetzen, und gegen den studentischen Freundeskreis, der von ihrem Problem nichts wissen will. Audrey Diwan hat Das Ereignis, den autobiografischen Roman von Annie Ernaux, als rigides, einnehmendes Drama einer zu allem Entschlossenen inszeniert. In Venedig erhielt die Regisseurin dafür 2021 den Goldenen Löwen.

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STANDARD: Ernaux sagt in ihrem Buch, über ihre Realität als junge Frau zu schreiben, sei auch eine Form der Opposition gegen männliche Herrschaft. Sehen Sie da auch so?

Diwan: Mir geht es um die Ausrichtung auf ein Menschenrecht, nicht nur um Frauenrechte – das große Thema lautete eigentlich nicht Abtreibung, sondern Freiheit. Freiheit der Wahl. Es beginnt bei Frauenrechten, aber es endet nie dort.

STANDARD: Hatten Sie auch aktuelle Entwicklungen im Kopf?

Diwan: Ich wusste natürlich, dass Frauen heute noch mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Das war aber nicht so zentral. Als ich mit meinem Produzenten Geld für den Film aufzustellen versuchte, fand ich eines interessant: Ich hörte immer wieder, wir hätten doch in Frankreich ein Gesetz für Schwangerschaftsabbruch. Ich habe dann geantwortet: "Argumentieren Sie so auch beim nächsten Film über den Zweiten Weltkrieg?" Es ist ein Thema, bei dem einem andere Fragen gestellt werden.

STANDARD: Solidarität ist unter den Frauen im Film kaum vorhanden. Wäre das heute anders?

Diwan: Ich bin mir nicht sicher. Gerne würde ich das bejahen. Es sagt sich ja leicht, ich würde helfen und sogar dafür ins Gefängnis gehen. Aber täte ich das wirklich? Schwierig zu beantworten. Ist die Solidarität zwischen den Frauen nicht groß genug, oder haben sie einfach Angst? Anne gehört zur ersten Generation, die studieren konnte. Sie wollten alles geben. In Wirklichkeit muss man jeden Tag unter Beweis stellen, was man zu tun bereit ist.

STANDARD: Ernaux schreibt über die Neugierde, die sie in den Blicken der anderen bemerkt. Die Schwangerschaft erscheint als Drama – das muss der Film vermeiden, richtig?

Diwan: Auf jeden Fall. Und um ein Drama zu vermeiden, muss man vor allem vermeiden, eines zu schreiben. Dafür begleitet man die Figur Schritt für Schritt auf ihrem Weg. Man weiß nicht, was als Nächstes passiert. Es ging darum, in jedem Moment bei ihr zu sein und zu fühlen, was sie fühlt.

STANDARD: Wie gelingt das, wenn man auf das literarische Mittel der Introspektion verzichten muss?

Diwan: Wir haben sehr viel an der Idee der Stille gearbeitet. Das Publikum muss Annes Gefühle verstehen, auch wenn sie kaum spricht. Vor dem Dreh haben wir viel über innere Monologe debattiert. Anamaria Vartolomei, die Anne spielt, musste genau wissen, was die Figur gerade denkt. Sie ist nicht nur ein Körper, der sich bewegt. Sie muss ihr Inneres nach außen kehren. Auch der Atem war entscheidend: Emotionen vermitteln sich dadurch. Man kann sie regelrecht hören.

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Audrey Diwan (42) arbeitete als Drehbuchautorin und Journalistin. "Das Ereignis" ist ihre zweite Regiearbeit. Sie lebt in Paris.
Foto: Vianney Le Caer/Invision/AP

STANDARD: "Das Ereignis" ist kein Film über eine Entscheidungsfindung, die Entscheidung steht. Wie haben Sie das in der Körpersprache umgesetzt?

Diwan: Während des Lockdowns hatten wir unerwartet viel Zeit. Wir haben Bücher ausgetauscht und Filme, die uns dabei helfen würden, die Figur zu verstehen: Rosetta, Vogelfrei, Elephant. Für Anne musste jede Person, auf die sie trifft, ihre letzte Chance darstellen. Wir haben oft zueinander gesagt, sie sei eine Soldatin. Wo stellt sie ihre Füße hin, wie setzt sie ihre Schultern ein? Sie muss immer nach vorn schauen, nie auf den Boden. Mir gefiel die Tatsache, dass sie gar nicht versucht, freundlich zu sein. Man muss sie nicht mögen. Es gibt einen Satz in Éric Rohmers Die Sammlerin, den ich liebe: "Die Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, gehen immer aufs Ganze." Anne ist von lauter Rasierklingen umgeben.

STANDARD: Ernaux hat das gesellschaftliche Ganze im Blick. Der Film fasst das enger, schon im Bildformat.

Diwan: Ich wollte sehr respektvoll sein. Doch bei einem historischen Film geht es auch darum, zum Essenziellen vorzudringen. Der Bildausschnitt bringt den Körper ins Zentrum. Je mehr Anne ins Unbekannte vordringt, desto öfter befinde ich mich hinter ihr. Es ist auch eine gute Einstellung, um den Druck der Figur zur veranschaulichen.

STANDARD: Manchmal hat das etwas von einem Spionagefilm. Die Heldin bewegt sich in den Untergrund.

Diwan: Ich hatte Jean-Pierre Melvilles Résistance-Drama Armee der Schatten im Kopf, denn es geht um eine Idee von Widerstand: Menschen, die im Schatten flüstern. Wenn das Gesetz etwas verbietet, muss man in den Untergrund gehen. Die Angst ist das zentrale Gefühl, auch im Buch. (INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh, 17.3.2022)