Das Ziel des Angriffs ist durch Beschriftungen vor und hinter dem Gebäude markiert. Das Drama-Theater in Mariupol zeigt deutlich an: Hier sind "Kinder" untergebracht.

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Die Meldung über das verheerende Bombardement des Drama-Theaters in Mariupol belegt einen furchtbaren Verdacht. Der Krieg, den die Russische Föderation in der Ukraine mit zerstörerischer Vehemenz führt, verstößt gegen jene Rechtsnormen, die eine strikte Beschränkung aller Kriegshandlungen bindend vorsehen: die "Hegung" bewaffneter Konflikte, von der man seit Carl von Clausewitz spricht.

Darüber hinaus leugnen die russischen Urheber des Terrors eine weitere grundlegende Differenz. In nichts sollen sich Kriegsziele von zivilen, per se schutzwürdigen Einrichtungen unterscheiden. Die Ubiquität des Kriegsgeschehens, vor dem keine Spitäler, keine Kultstätten und keine heiligen Orte mehr sicher sind, beschreibt die Wirksamkeit des bösesten aller Paradoxons. Man zielt mit überwältigender Feuermacht ausgerechnet auf "heterotopische" Plätze (Michel Foucault).

Solche Punkte markieren Ruhezonen inmitten unserer Erwerbsgesellschaften. Sie sind keiner Produktivität zugedacht und bleiben häufig schwachen oder deklassierten Menschen vorbehalten. Solche Einrichtungen bilden vielmehr Rückzugsorte, Stätten der freiwilligen Einkehr oder des bereitwillig gewährten Schutzes.

Friedliche Begegnungsstätten

Häufig handelt es sich bei ihnen um Asyle für die Ältesten und Jüngsten: friedliche Begegnungsstätten, Umschlagplätze für Medikation und seelischen Zuspruch. Theater gehören aus einer solchen Sicht genauso wie Pflegeheime oder Tagesstätten zum Inventar einer dringend notwendig gewordenen Wiederherstellung. Sie sind Orte einer Rehabilitation, die unsere physischen oder spirituellen Ressourcen stärken soll.

Ein solcher gemeinmenschlicher Anspruch auf Rekreation macht ihre Unantastbarkeit zwingend erforderlich. Genau darum ist eine solche Schutzwürdigkeit ein absolutes, überzeitliches Gut: auch dann, wenn das äußere Erscheinungsbild der jeweiligen Einrichtung keine Zwiebeltürme mit Goldlackierung aufweist.

Rund um das Gebäude stand "Kinder"

Unmöglich darf Gewalt gegen zivile Ziele gerichtet werden. So formuliert es die Haager Landkriegsordnung. Unzulässig sind Bombardierungen militärischer Ziele, bei denen unverhältnismäßig viele zivile Opfer zu gewärtigen sind. Dem Angriff auf das Mariupoler Theater ging eine eindeutige Markierung voraus: Rund um das Gebäude stand in russischen Lettern mehrfach das Wort "Kinder" geschrieben – unübersehbar für jeden noch so böswilligen Dominator des Luftraums.

Die Antwort der Propagandisten? Macht sich ausgerechnet die Umkehr des vermeintlichen Verwendungszwecks zunutze. Mit der angeblichen "Einlagerung" von Kombattanten in ursächlich zivile Einrichtungen soll die Verwischung der Grenze zwischen den Sphären – denjenigen von Krieg und Frieden – verwirklicht sein.

Der ewige Argwohn

Es ist dieser Unwille zur Trennung, der das Moment barbarischer Entgrenzung markiert. Ihm liegt eine Art Beweislastumkehr zugrunde: Der Aggressor fordert den (kaum zu erbringenden) Nachweis, dass sein Argwohn, der dem trügerischen Anschein des Friedens gilt, unbegründet sei. Mit Schrecken erinnert man sich der Geiselnahme durch tschetschenische Separatisten im Moskauer Dubrowka-Theater 2002. Damals leiteten die Kräfte des Inlandgeheimdiensts Gas in das Gebäude. Beim anschließenden Sturm kamen 130 von 850 Geiseln ums Leben.

Heterotopische Orte sind von vornherein "neutralisiert". Es handelt sich um Gegenplatzierungen und Widerlager, "gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können" (Foucault). Nicht allein der sanitäre oder medizinische Zweck definiert ihre Unantastbarkeit. Gemeint sind seit der Frühgeschichte Plätze oder Bezirke, in denen Gesellschaften auf vielfältige Weise die Vorstellung dessen pflegen, was sie – zu ihrem eigenen Besten – ausmacht.

Dessentwegen veranstaltet die Menschheit in den ihr heiligen Bezirken Opferriten. Dort feiert sie überschwänglich Feste, dort stachelt sie die kollektive Vorstellungskraft zu Höchstleistungen an. Am Ende aller kulturellen Perspektiven steht freilich die Schutzwürdigkeit des Lebens – und das Recht auf zivilen Rückzugsraum. (Ronald Pohl, 17.3.2022)