David Jelinek, Josephine Seer, Ulla Brodträger (v. li.) vom Verein Mila: "Die Leute wollen endlich mitarbeiten."

Foto: Christian Fischer

Wien – Veganer Räucherlachs. Reis aus Niederösterreich. Obst aus der Region. Himbeersaft. Veganes biologisches Katzenfutter. Glutenfreies." Die Wunschliste an der Wand wird stetig länger. In den Regalen des Geschäftslokals des Vereins Mila in Wien-Ottakring ist davon bisher aber noch nicht viel zu sehen. Von der Decke baumeln Glühbirnen. Als Arbeitsplatz dient ein Biertisch. David Jelinek mustert die Notizen der Vereinsmitglieder nicht ohne Sorge. "Wir müssen aufpassen, nicht zu elitär zu werden."

Jelinek arbeitete einst für Biohändler und auf Bauernmärkten. Seit zwei Jahren widmet er sich gemeinsam mit dutzenden Mitstreitern dem Aufbau eines neuen Supermarkts.

Die Inspiration kam aus Paris: Mehr als 7000 Genossenschaftsmitglieder schufen mit dem Händler La Louve 2016 einen Gegenpol zu kommerziellen Handelskonzernen. In New York schlossen sich tausende Amerikaner bereits in den 1970er-Jahren zusammen, um mit ihrer Park Slope Food Coop den Traum von Ernährungssouveränität zu leben.

Leuchtturmprojekte

"Gute Lebensmittel sind ein Grundrecht", sagt Jelinek. Bio etwa dürfe nicht nur einer finanziellen Elite zugänglich sein. Internationale Leuchtturmprojekte hätten bewiesen, dass solidarisches Wirtschaften sehr wohl Erfolg habe. "Es geht hier um keine neuen Apps, für die Start-ups Geld einsammeln, sondern um etwas, das Menschen wirklich brauchen."

Was treibt den Verein Mila an? Biologische und regionale Produkte sollen keine Frage des Geldbeutels sein. Ziel ist es, die Anonymität zwischen Produzent und Konsument zu reduzieren. Sämtliche Preiskalkulationen als bestgehütete Geheimnisse des Handels werden offengelegt und Entscheidungen über Standort wie Sortiment basisdemokratisch getroffen.

Der Preis der Freiheit

Die Freiheit hat ihren Preis. Wer Kunde werde will, muss Eigentümer sein und regelmäßig persönlich mitanpacken. Das Eintrittsticket dafür ist ein Genossenschaftsbeitrag. Alle vier Wochen heißt es drei Stunden lang Waren schlichten oder im Verkauf aushelfen. Sich freizukaufen spielt es ebenso wenig wie Dienstboten als Ersatz zu schicken.

Banker und Ärzte, Pensionisten, Alleinerzieher und Arbeitslose stapeln am sozialen Ort der Begegnung einhellig miteinander Paletten, so die Idee. Wer der Schicht unentschuldigt fernbleibt, muss sie doppelt ableisten.

In Paris bindet die Verwaltung der komplexen Dienstpläne eine Vollzeitstelle. "Es klingt jedoch schlimmer, als es ist", beruhigt Jelinek. Schließlich gebe es Software, um die Administration nicht ausufern zu lassen.

Mehr Frauen als Männer

3000 Mitglieder, die einen einmaligen Beitrag von 100 Euro leisten, steckte sich Mila vor zwei Jahren als Ziel. 330 sind es mittlerweile. Gut 80 Prozent davon sind Frauen. Ulla Brodträger, die das Projekt als Buchhalterin ehrenamtlich unterstützt, hofft, dass es bis zur geplanten Eröffnung 2023 zumindest 2000 werden. Ein bis 1,5 Millionen Euro brauche es für den Start, schätzt sie. Basis dafür ist ein Kredit, für den es wiederum Eigenmittel bedarf.

Neben Kapital fehlt bisher ein geeigneter Standort. Mindestens 800 Quadratmeter sollen es sein, da viel Lagerfläche nötig ist. Außerhalb des Wiener Gürtels und doch zentral will man ihn ansiedeln, jedenfalls so nahe wie möglich im Einzugsgebiet der Genossenschafter. Ob Hausbesitzer wie in anderen Städten bei Mieten nachlassen, steht in den Sternen.

Auf dem Boden der Realität angekommen ist Mila, was die Ausstattung des Supermarkts betrifft. Kinderbetreuung, Bistro, Feinkostabteilung auf mehr als 1000 Quadratmetern, die den Gründern zu Beginn vorschwebten, sind unerschwinglich. "Wir müssen uns erst aufs Kerngeschäft konzentrieren", sagt Jelinek.

Grundsatzdebatten

In unzähligen Arbeitsgruppen hat man in den vergangenen Monaten über das Sortiment diskutiert, das über gemeinschaftliche Mitarbeit günstig gehalten werden soll. Und sich dabei mitunter in Grundsatzdebatten verzettelt, ob Schokoschnitten bekannter Marken in den Regalen nun ethisch vertretbar sind oder nicht.

Fix ist, dass eine Marge von 30 Prozent einheitlich auf den Netto-Einkaufspreis aller Produkte, die Landwirte, Verarbeiter und Großhändler liefern, draufgeschlagen wird.

Das Ideal von 100 Prozent Bio wurde fallengelassen. Es gebe auch viel Gutes und Handwerkliches ohne die entsprechende Zertifizierung, gibt Jelinek zu bedenken und zeichnet das Bild einer Bibliothek für alle Leser, in der neben Dostojewski-Ausgaben die Comics von Asterix und Obelix stünden.

Trockentraining in Zoom-Meetings absolvierte der Verein jedenfalls genug, resümiert Brodträger. "Die Leute wollen endlich mitarbeiten und erleben, wie die Logistik, der Verkauf, die Zusammenarbeit funktionieren."

Zwischenstopp

Auf dem Weg zum großen Supermarkt will Mila daher im April einen kleinen in der Wiener Haberlgasse eröffnen. Bis 23. März wird dafür über Crowdfunding Geld beschafft. 20.000 Euro kostet das "Testlabor", das dem Verein auch mehr Genossenschaftsmitglieder verschaffen soll.

Supercoop in Berlin ist einen Schritt weiter. Nach dem Start im September wird eben von 200 auf 700 Quadratmeter ausgebaut. Genossenschafter banden sich für drei Jahre, um die Finanzierung stabil zu halten.

In München ist seit Juli der ähnlich konzipierte Food Hub auf dem Markt. Neben Mitgliedern halten fünf Angestellte das Geschäft am Laufen. In Köln geht das Köllektiv heuer vom Stapel. Im Hamburg suchen Supercoop und Wir-Markt noch Immobilien und Geld.

"Wer zieht den Karren?"

Bei aller Euphorie: Er kenne kein nach idealistischen Kriterien gegründetes Geschäftsmodell, das lange währte, sagt Christof Kastner, Großhändler und Vize-Obmann des Lebensmittelhandels. Basisdemokratie sei gut, "aber irgendwer muss den Karren ziehen". Es brauche professionelle Strukturen. Die größte Herausforderung sei es, Leute über die ersten Hürden hinaus bei der Stange zu halten.

Der Verein Mila will seinen Businessplan im Frühjahr auf den Tisch legen. Als Vollsortimenter peilt man drei bis vier Vollzeitjobs an, die allesamt gleich bezahlt sind. Finanzielle Hierarchien sind tabu.

"Sozialrevolutionären Illusionen" gibt sich Jelinek dennoch nicht hin: Kunden, die auf hohe Rabatte angewiesen seien und die jeden Euro dreimal umdrehen müssten, werde der Mitmachsupermarkt eher nicht erreichen. (Verena Kainrath, 18.3.2022)