Um Russland wirtschaftlich auszuhungern, muss wohl oder übel die russische Bevölkerung büßen.

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Bleiben ist imagetechnisch schwierig, Gehen mit harten Vergeltungsmaßnahmen des russischen Bären verbunden. Der Angriffskrieg in der Ukraine bringt nicht nur menschliches Leid, sondern auch Unternehmen in eine Zwickmühle. Niemand will mit dem Vorwurf konfrontiert sein, das Regime Wladimir Putins zu unterstützen. Dieser naheliegenden moralischen Pflicht sind sich Firmen bewusst, doch man muss den Rahmen größer denken. Es gibt Verpflichtungen gegenüber den Menschen in Russland. Und schließlich auch gegenüber Aktionären. Was tun?

Tech-Riesen, Autokonzerne, Kleidungs- und Lebensmittelhändler – die Liste jener Betriebe ist lang, die Russland in einer beispiellosen Rückzugsaktion verlassen haben. Viele weitere haben die geschäftlichen Tätigkeiten reduziert. Manche allerdings bleiben – zum Beispiel Nestlé, Pepsico, Metro, Henkel oder Bayer. Sie begründen die Entscheidung allesamt gleich: soziale Verantwortung gegenüber der russischen Bevölkerung.

Beweislastumkehr

"Die Beweislast ist umgekehrt, wer bleibt, muss sich dafür rechtfertigen", sagt Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen . "Putin hat Völkerrecht gebrochen, es ist richtig, wenn Unternehmen die politischen Sanktionen mittragen." Beschorner betont allerdings auch, dass es keine One-fits-all-Lösung gibt. "Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man Schokoriegel oder Billy-Regale verkauft – oder eben lebenswichtige Medikamente. Oder ob man Atomkraftwerke wartet." Ethisch sei es aber der richtige Ansatz, das Land zu verlassen, denn Unternehmen seien nicht nur ökonomische Akteure, sondern haben auch politische Kraft.

Der russische Präsident Putin weiß freilich, dass er nicht tatenlos zusehen muss. Moskau hat für den Rückzug Vergeltung angedroht. Wer geht, muss eventuell seine Anteile oder Liegenschaften abgeben, sie werden verstaatlicht. Wird eine Fabrik geschlossen, droht ein Eilverfahren wegen vorsätzlichen Bankrotts. Ein berühmtes Beispiel ist McDonald’s, der Konzern zahlt seine 62.000 Angestellten weiter, obwohl alle Filialen geschlossen sind. Offiziell aus Verantwortungsgefühl.

Mitarbeiter als Spielball

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden unfreiwillig zu einem Spielball, und das macht die Situation noch einmal verzwickter. "Als Unternehmer hat man Fürsorgepflicht für die Menschen. Das kostet Geld, aber man kann nicht einfach nur abhauen", sagt Beschorner.

Die Sache hat jedoch den Haken, dass die Sanktionen Russland schwächen sollen. Und auch Beschorner sieht den größten Hebel beim Druck aus der Bevölkerung: "Russland muss von innen destabilisiert werden. Je größer die Einbußen für das Volk werden, desto stärker wird die Gegenwehr gegen den Krieg." All das seien sehr schwierige Abwägungen.

Eine schwierige Situation, die manch großen Player am russischen Markt die eigenen Entscheidungen überdenken lässt. So verkündete am Donnerstag der Chef der Raiffeisen Bank International (RBI), Johann Strobl, dass man für die Russland-Tochter in Moskau alle Optionen prüfe – Ausstieg inklusive. Eine Kehrtwende: Am 1. März noch hatte Strobl einen Rückzug aus Russland ausgeschlossen. Nun beruft er sich auf die "noch nie dagewesene Situation", die die RBI habe umdenken lassen.

Größte des Marktes

Nicht zu vergessen ist die Größe des boykottierten Marktes. Russland ist kein vernachlässigbarer Minimarkt wie Nordkorea. Das größte Land der Welt strotzt vor Rohstoffen, so sorgen sich etwa Autobauer bereits um das für Batterien notwendige Nickel. Und die Problematik rund um Öl und Gas, aber auch Saatgut und Weizen ist ohnehin omnipräsent.

Zusätzlich spielt der gesetzliche Boykott eine wesentliche Rolle. Im neuesten Sanktionspaket hat die EU Stahlimporte, Geschäfte mit Energiekonzernen, aber auch den Export von Kaviar, Designerhandtaschen, teurem Wein und Pferden verboten.

Österreich und Russland

Aus Österreich sind laut der Wirtschaftskammer rund 650 Unternehmen am russischen Markt aktiv, mit Investitionen von rund 4,6 Milliarden Euro – umgekehrt sind russische Firmen in Österreich mit rund 21,4 Milliarden Euro aktiv und damit nach Deutschland der zweitgrößte Investor.

Ein wirtschaftspolitisches Mantra dürfte nun offiziell ausgedient haben: Handelsbeziehungen zu autokratisch geführten Staaten stärken deren Demokratisierung. "Es hieß immer, die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft geht Hand in Hand. Hier braucht es mehr Realismus. China, Saudi-Arabien oder Katar sind gute Beispiele, dass autoritäre Führung und kapitalistische Wirtschaftsweise gemeinsam funktionieren." Die Politik müsse die nächsten Schritte im Energieengpass sehr genau durchdenken. Ein Wechsel auf Flüssiggas aus dem arabischen Raum etwa bringe uns "vom Regen in die Traufe".

Beschorner ruft Firmen weiters dazu auf, die Standortwahl genau zu analysieren: "Wer in einem instabilen Land Geschäfte macht, muss den Ausfall als ökonomisches Risiko einrechnen." (Andreas Danzer, 18.3.2022)