Der TV-Journalistin Marina Owsjannikowa, vorerst auf freiem Fuß, könnte eine lange Haftstrafe drohen.

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Eigentlich sollte es bei der Regierungssitzung um soziale und wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen für die russischen Regionen gehen. Aber zu Beginn wollte Russlands Präsident Wladimir Putin noch einmal etwas Prinzipielles loswerden: Erst wiederholte er die These, dass Russland zum Einmarsch in die Ukraine gezwungen worden sei, warf dem Nachbarland Kriegsvorbereitungen und die Entwicklung von Atom- und Biowaffen und dem Westen "moralische und ethische Degradierung sowie eine völlige Entmenschlichung" vor.

Dann nahm er sich die Feinde im Inneren des Landes vor: "Zweifellos werden sie auf die sogenannte fünfte Kolonne setzen, auf Nationalverräter, auf diejenigen, die ihr Geld hier erwirtschaften, aber dort leben, wobei sie nicht einmal unbedingt im geografischen Sinne dort leben, sondern in ihren Gedanken und ihrem sklavischen Verständnis", sagte er. Der Angriff galt damit also nicht den Kreml-nahen und auch etwas -ferneren Oligarchen, deren Villen und Yachten gerade zuhauf im Westen beschlagnahmt werden, sondern den Menschen, die dem westlichen Demokratieverständnis nachstreben.

Jetzt teile sich die Gesellschaft in "echte Patrioten" und "Halunken und Verräter", die das Volk "ausspucken" werde. "Diese natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft stärkt nur unser Land, unsere Solidarität, Einheit und Bereitschaft, auf jegliche Herausforderung zu antworten", so Putin.

Letzte Hemmungen fallen

Putins Rede verdeutlicht, dass der Kreml-Chef sich im Krieg sieht, obwohl er das Wort nicht gebraucht. Das Freund-Feind-Schema ist schärfer denn je. Russen, die vielleicht überhastet das eigene Land verlassen haben, müssen sich nach diesen Worten des Kreml-Chefs zweimal überlegen, ob sich eine Rückkehr lohnt.

Dass sich Putin des Wortes "Nationalverräter" bedient, zeugt von der rasanten und gefährlichen Entwicklung, die das russische System gerade nimmt. Wurde die Demokratie in den vergangenen zehn Jahren in Russland Schritt für Schritt weiter ausgehöhlt, so verläuft die Entwicklung der letzten Wochen sprunghaft in Richtung Diktatur.

Ein Indiz dafür sind auch die ersten nach dem neuen Fake-News-Gesetz eingeleiteten Strafverfahren: Getroffen hat es die Bloggerin Veronika Belozerkowskaja, die sich in der Vergangenheit mit der Veröffentlichung von Kochrezepten ein größeres Publikum aufgebaut hatte, nun aber nach Ansicht des Ermittlungskomitees politisch motiviert "bewusst falsche Angaben über den Einsatz der russischen Streitkräfte" gemacht hat.

Am selben Tag leiteten die Behörden auch noch Strafverfahren gegen zwei Bewohner der sibirischen Region Tomsk ein, die über ihre Accounts in sozialen Netzwerken ebenfalls über die Handlungen des russischen Militärs in der Ukraine "falsch" berichtet haben sollen. Das erst vor zwei Wochen im Eilverfahren vom Parlament verabschiedete Gesetz sieht bis zu 15 Jahre Gefängnisstrafe für die Verbreitung von "Fake News" vor. Diese Strafe könnte auch Marina Owsjannikowa noch blühen: Die Redakteurin des staatlichen Ersten Kanals war durch ein Antikriegsplakat bekannt geworden, das sie live während der Hauptnachrichtensendung in die Kamera gehalten hatte. In einem ersten Prozess wurde sie zu einem Bußgeld verurteilt, doch das Ermittlungskomitee hat darüber hinaus auch Vorermittlungen für ein strafrechtliches Verfahren aufgenommen.

Patriotischer Feiertag

Derweil laufen landesweit die Vorbereitungen für einen großen patriotischen Feiertag: Am Freitag sind in vielen Städten Großkundgebungen geplant, die die Verbundenheit des Volkes mit Putin demonstrieren sollen. Hintergrund: Am 18. März 2014 hat Russland die Krim annektiert. Die russische Staatsduma hat inzwischen vorgeschlagen, das Datum zu einem nationalen Feiertag zu machen.

Um den geplanten Aufmarsch der Menschenmassen zu ermöglichen, hat der Kreml, der Protestkundgebungen gegen den Krieg zuletzt auch immer noch mit Verweis auf die Covid-Lage verbot, nun praktisch alle mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen aufgehoben. Selbst die Maskenpflicht in der Moskauer U-Bahn wurde abgeschafft. Positiver Nebeneffekt für den Kreml: Die gerade in Russland recht große Gruppe der Verschwörungstheoretiker, die alle Covid-Beschränkungen verweigerte, wird damit auch zufriedengestellt.

Im einstigen Moskauer Olympiastadion Luschniki ist ein Riesenkonzert unter Beteiligung mehrerer hurrapatriotischer Gruppen geplant. Der Duma-Abgeordnete Pjotr Tolstoi sprach von einem "großen Konzert zur Unterstützung unseres Präsidenten und unserer Armee, der dem Jahrestag der Heimkehr der Krim nach Russland gewidmet" sei. Möglich, dass Putin den Tag ebenfalls für einen Auftritt im Luschniki-Stadion nutzt, um seine Anhänger zu konsolidieren. Studenten und staatliche Angestellte wurden bereits massiv für die Teilnahme am Konzert rekrutiert. (André Ballin, 17.3.2022)