Wenngleich das zum Meme gewordene "Jahr des Linux-Desktops" auch 2022 nicht angebrochen ist, hat sich seit der Manifestation dieses Begriffes einiges getan. Eine Reihe von Linux-Distributionen versucht mittlerweile, einen sanften Einstieg in die Welt des freien Betriebssystems zu ermöglichen.

Eine davon, die es speziell auf umstiegsinteressiertes Windows-Publikum abgesehen hat, ist Zorin OS. Sie setzt auf eine grafische Oberfläche, die es erlauben soll, sich ohne große Mühen umzugewöhnen. Wer nicht möchte, muss sich auch nicht mit Textbefehlen in der Shell beschäftigen. Für alles, was man im Alltag von seinem System braucht, soll es Lösungen mit grafischer Oberfläche geben.

Das beginnt freilich bei der Installation, die kaum einfacher sein könnte. Man kann das System via Live-Image erst einmal ausprobieren und, so man überzeugt ist, installieren. Dazu wählt man die gewünschte Sprache, Keyboard-Layout, Zeitzone und Datenträger. Optional kann man auch schon eine Netzwerkverbindung nutzen, um parallel zur Einrichtung des Systems auch schon Updates herunterzuladen.

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Für den Test wurde dies innerhalb einer virtuellen Maschine (VM) via Oracle Virtualbox vorgenommen. Das System – es handelte sich um Zorin OS 16.1 Pro (Linux-Kernelversion 5.13) – durfte mit vier der 16 Threads eines Ryzen 3700x und 4 GB RAM sowie einem Speicher von insgesamt 64 GB arbeiten, wo es nach der Installation etwa 27 GB belegte.

Proversion mit umfangreicher Softwareausstattung

Die Proversion ist feature- und platztechnisch die umfangreichste Variante und um 39 Euro die einzige, die kostenpflichtig ist. Sie bringt eine große Sammlung vorinstallierter (freier) Kreativ- und Produktivitäts-Apps mit. Von Bildbearbeitungstools wie GIMP über den 3D-Modeller Blender bis hin zum recht mächtigen, nonlinearen Videoeditor Kdenlive. Als Office-Lösung ist bei allen Editionen Libre Office dabei, beim Standardbrowser setzt man auf Firefox. Dateiverwaltung wird über den Gnome File Manager abgewickelt.

Wer sein Smartphone über den Rechner verwalten will, etwa für Dateiübertragung oder das Lesen von SMS, kann dies mit der Zorin-Connect-Software tun. Diese ermöglicht auch die Verwendung des Handys zur Steuerung des Rechners. Allerdings nur in Kombination mit der gleichnamigen Android-App. Eine iOS-Lösung gibt es bis dato nicht, was möglicherweise eher an Apple denn an den Zorin-Entwicklern liegt. Die sparsamste Ausgabe des Betriebssystems trägt den Beinamen Lite, ist in einigen Belangen abgespeckt und richtet sich an ältere beziehungsweise leistungsärmere Computer.

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Zorin OS 16 Pro bringt zudem eine größere Auswahl an Wallpapern mit und wartet mit zusätzlichen Desktop-Layouts auf. Die Core-Version hat eine an Windows 10 angelehnte Oberfläche, eine im Stile der Gnome-Shell und einen touchfreundlichen Desktop. Die Pro-Ausgabe ergänzt dies um einen Nachbau des Windows-11-Looks, Menüs im Stile von älteren Windows-Versionen (Vista, XP), einen Desktop mit einer Sidebar à la Ubuntu und – last but not least – einen im Mac-OS-Stil gehaltenen Startbildschirm mit App-Leiste. Diese sind jeweils kombiniert mit entsprechenden Menüs zur Suche und dem Start von Programmen, inklusive verschiedener Varianten von Windows-Startmenüs. Alle Oberflächen lassen sich auch in einem Dark Mode anzeigen.

Geht es nur um die vorinstallierten Programme und nicht zwingend um die ästhetischen Aspekte, kann man auch schlicht die Core-Version nutzen und die entsprechende Software nachinstallieren. Um neue Programme zu finden und zu installieren, gibt es eine Softwarekatalog-App. Freilich kann man aber auch einfach Tools und Spiele separat davon herunterladen und installieren. Genutzt werden 64-Bit-Installationspakete für Distributionen, die auf Debian Linux basieren. Zorin selbst baut übrigens auf dem recht beliebten Ubuntu auf und hat mit Version 15 den Sprung von 32 auf 64 Bit gemacht. Sofern ein Installationspaket, das abseits des "offiziellen" Katalogs bezogen wurde, entsprechende Verweise auf die Quelle mitbringt, wird es auch beim Abrufen von Aktualisierungen einbezogen. Die Aktualisierungs-App bündelt sowohl Softwareupdates als auch Aktualisierungen für Zorin selbst.

Ein Arbeitstag mit Zorin OS

Um zu erproben, wie alltagstauglich jemand, der seit Jahrzehnten und seit Version 2.0 praktisch exklusiv mit Windows arbeitet, das System nutzen kann, habe ich Zorin OS 16 einen Tag lang zum Arbeiten genutzt. Und das war ohne Probleme möglich, sieht man von kleinen Verzögerungen ab, die sich aus der Nutzung mit einer virtuellen Maschine ergeben.

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Einzig Videoconferencing per Teams musste unter Windows abgewickelt werden, weil für mein Wireless Headset keine Linux-Treiber existieren und die Inbetriebnahme als "generisches" Audiodevice nicht erfolgreich möglich war. Mit weniger spezieller Soundhardware sollte dies aber kein Problem darstellen. Einen Linux-Client für seine Office-Kommunikationssoftware bietet Microsoft an.

Die Anordnung der verschiedenen Optionen im Systemeinstellungsmenü ist zwar nicht ident zu Windows, dennoch aber nachvollziehbar angeordnet. Manche Konfigurationen, etwa für die Konfiguration von Standard-Apps (Browser, Bildbetrachter, E-Mails et cetera), sind sogar schneller zu finden.

Darüber hinaus war die Bedienung mit der Windows-11-artigen Oberfläche so nah am "Original", dass der Arbeitsfluss zu keiner Zeit wegen Schwierigkeiten unterbrochen werden musste. Office, Multimedia, Streaming – alles lief problemlos. Keine Schwierigkeiten machte grundsätzlich auch Steam, aufgrund der genannten VM-Limitationen war die Gaming-Performance aber eher bescheiden.

Wer mit der Anschaffung eines Steam Deck liebäugelt und auf diesem gerne ein Windows-artiges System laufen lassen würde, ohne die für Windows notwendigen Ressourcen zu opfern, sollte Zorin OS als Ersatz für Steam OS durchaus in Betracht ziehen.

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Fazit

Das Zorin OS-Entwicklerteam leistet nach wie vor gute Arbeit, wenn es darum geht, eine Linux-Distribution zu liefern, die Nutzern anderer Betriebssysteme – insbesondere Windows – den Umstieg möglichst erleichtert. Würde ich selbst meinen Rechner als reines Arbeitsgerät verwenden – ich bin auf keine Software angewiesen, die exklusiv Windows voraussetzt –, wäre Zorin OS wohl meine erste Wahl als Alternative oder Ersatz für Microsofts System. Selbst mein Gesangshobby ließe sich auf aufnahmetechnischer Seite problemlos damit ausleben.

Schwieriger würde es mit dem 3D-Druck, denn das CAD-Tool meiner Wahl, Fusion 360, gibt es für Linux nicht. Hier müsste ich entweder zu einer virtuellen Maschine mit Windows oder der Windows-kompatiblen Runtime-Umgebung Wine greifen – was in beiden Fällen mit signifikanten Nachteilen verbunden ist. Mit Free CAD gäbe es zwar ein freies Programm, dessen Funktionsumfang meine Bedürfnisse abdeckt. Dafür müsste ich allerdings eine sehr deutlich andere und meines Erachtens nach furchtbar umgesetzte Bedienoberfläche in Kauf nehmen. Hinzu kommt das bereits erwähnte und nicht wirklich lösbare Treiberproblem mit dem Wireless Headset.

Sollte aber etwa mein Laptop, der nur selten für Games genutzt wird, einmal in Ruhestand gehen beziehungsweise Überforderungserscheinungen durch Windows bekommen, wäre für mich der Umstieg auf Zorin ein logischer Schritt. Wer einen PC hat, der von neueren Windows-Versionen ohnehin nicht mehr unterstützt wird, findet hier ein robustes und umstiegsfreundliches System, mit dem fast jeder Alltagsbedarf abgedeckt werden kann. (Georg Pichler, 18.3.2022)

Update, 10:50 Uhr: Steam OS ist seit Version 3.0 nicht mehr Debian-, sondern Arch-basiert. Die entsprechende Textstelle wurde überarbeitet.