Wir sind nichts als Zeremonien; und die Zeremonie reißt uns hin, dass wir das Wesen der Dinge nicht betrachten. (Montaigne)

Viele der in den sozialen Medien platzierten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aussagen – so dringlich und glaubwürdig sie manchmal auch erscheinen mögen – setzen sich für mich seit jeher schon aus schwer deutbaren, sich gegenseitig durchdringenden kommunikativen Mischformen zusammen, die zwischen kalkulierter Unaufrichtigkeit, selektiver Höflichkeit, ignoranter Selbstüberschätzung, strategisch gesetzter empörter Selbstherrlichkeit, kühlen und zielgerichteten Karriereüberlegungen, humanistischem Gestaltungswillen, Empathie und aufrichtiger Anteilnahme oszillieren. Diese in ihrer Gesamtheit verstörenden Kommunikationsstrategien werden dabei mit der allergrößten Selbstverständlichkeit und völlig unbewusst praktiziert und scheinen systemimmanent zu sein.

Soziale Netzwerke sind in erster Linie vor allem mächtige, digitale Werbeplattformen. Von diesen Werbeplattformen aus verbreiten sich unsere Aussagen und Beiträge rasant und finden blitzschnell Eingang in viele andere Lebensbereiche und Diskurse des Alltags. Werden aber private, politische, gesellschaftliche, moralische und ethische Meinungen, Überzeugungen und Empörungen ohne Unterschied primär über mediale Kanäle kommuniziert, deren eigentliche und wesentliche Funktion seit jeher den Logiken des Marketings und Verkaufs folgt, verschieben sich die Perspektiven und erzeugen unvorhergesehene und weitreichende Nebeneffekte.

In den sozialen Medien kann das schwammige Eigene besten Gewissens gefeiert und das noch schwammigere Fremde abgelehnt werden.
Foto: imago/Sven Simon

Narzissmusbefriedigung

Twitter, Facebook und andere Social-Media-Kanäle sind bei genauerer Betrachtung vor allem Verkaufs- und Marketingtools. Hauptsächlich und im großen Ausmaß für deren Betreiber, im weiteren aber immer und mit jedem Posting natürlich auch für deren Nutzer. Es geht – in einer total durchkapitalisierten Welt auch kein Wunder – in letzter Konsequenz mit jeder in der digitalen Öffentlichkeit getätigten Meinung, mit jedem Wort, jedem Video, jedem Bild, jedem geteilten Inhalt immer um die Bewerbung und Anpreisung der eigenen Konzerne, Firmen, Parteien, Bewegungen, Vereine oder singulären Ich-Marken. Wozu sonst sollten Menschen einer mehr oder weniger großen abstrakten Masse permanent all ihre Gedanken kommunizieren wollen?

Es geht also immer um die Akkumulation kulturellen, sozialen oder ökonomischen Kapitals. Solange sich alle Nutzer dieser Funktion bewusst wären, damit übereinstimmten und transparent auch in diesem Sinne nutzten, wäre dagegen auch nichts einzuwenden. Dann aber wären diese Plattformen natürlich bei weitem nicht so verlockend und würden augenblicklich den ihnen eigenen narzissmusbefriedigenden Reiz verlieren.

Symbioseprozesse

Werden diese Netzwerke daher in weiterer Folge zu privaten – wiewohl öffentlichen – Kanälen umfunktioniert, stellen sich automatisch inkompatible Symbioseprozesse ein, die diese neue uneigentliche und stets subkutane Form der Kommunikation in Gang setzen. Fragen nach den Wechselwirkungen des Privaten mit dem Öffentlichen erhalten dadurch neue, aufschlussreiche Facetten. Werden doch durch die Verschmelzung ethischer, religiöser, moralischer, politischer und privater Themen unter dem Blickwinkel der totalen Verwertbarkeit Prozesse in Gang gesetzt, die nicht nur die Ordnungen des gesellschaftlichen Umgangs und der Kommunikation durcheinanderwirbeln, sondern dabei auch automatisch eine Unzahl an kapitalgebundenen Mikroideologien freisetzen, die je nach Qualität und Ausrichtung in einer pandemischen und kriegerischen Ausnahmesituation bedenklich totalitäre politische Tendenzen, wie wir sie rund um die Welt wahrnehmen müssen, erzeugen oder ihnen zumindest massiv zuarbeiten.

Soundkünstlerinnen und Soundkünstler benutzen für ihre Kompositionen oft die Methode der Granularsynthese. Die Granularsynthese in der elektronischen Musik basiert auf der Zusammensetzung einer großen Anzahl klanglicher Mikropartikel im untersten Millisekundenbereich, mit denen ein konstanter und mächtiger akustischer Strom erzeugt werden kann, der dann in unterschiedlichster Weise für die weitere Komposition der Musik genutzt werden kann. Dieses Bild, diese Vorstellung lässt sich auch auf unsere politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen anwenden, indem wir mikrosoziale Aussagen und Begebenheiten und deren Auswirkungen auf der makropolitischen Bühne miteinander in Relation setzen. Ein steter Strom kleinster alltäglicher Ideologiepartikel und die daraus resultierenden Verhaltensweisen der Einzelnen formen sich in dieser Allegorie zu einem gesellschaftlichen Gesamtsound, den Konzerne, Politiker und gesellschaftliche Manipulatoren jeder Ausrichtung nach ihren Vorstellungen zu kanalisieren, formen und "komponieren" versuchen.

Jürgen Berlakovich
Foto: Eva Ketely

Granulare Gesellschaft

Der Soziologe Christoph Kucklick prägte den Begriff der granularen Gesellschaft, in der das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst und in unzählige kleinteiligste Grains zerlegt. Diese granulare Gesellschaft hat mehr denn je in der Geschichte der Menschheit das Potenzial, echte oder bessere demokratische Zustände und damit auch eine gerechtere Welt zu etablieren. Eine granulare Gesellschaft fordert aber auch eine gewisse Form der Verantwortung, Welt- und Weitsicht, die dem zurzeit weitverbreiteten, auf Selbstdarstellung und Selbstoptimierung programmierten infantil-narzisstischen Charakter nicht so recht einsichtig zu sein scheint.

Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, Milieus und vollkommen unabhängig vom Bildungsstand oder der politischen Lagerzugehörigkeit posten täglich wild drauflos, teilen, leiten weiter, manipulieren und verbreiten begeistert oder empört alles, was in ihren Timelines so daherkommt, um ein wenig Aufmerksamkeit und ein paar Likes zu erhalten. Dass sie dabei nebenbei auch das, was sie eigentlich stört und was sie oft berechtigterweise empört kritisieren und ablehnen, mit jeder Erwähnung aufs Neue erfolgreich verkaufen, scheint eine Funktion zu sein, die vor allem rechtspopulistische Manipulatoren geschickt zu nutzen wissen.

In so einem kommunikativ-digitalen Biotop, so meine Überlegung, kommen aufgrund der unberechenbaren Symbiose ökonomischer, moralischer, politischer und privater Vermengungen fast selbstverständlich kleinteiligste granulierte Alltagsideologien – ich nenne sie Granularideologien – zum Tragen. Diese Granularideologien konstituieren mehr denn je das momentane kollektive Bewusstsein unserer Gesellschaften und setzen ideologische Noceboeffekte frei, die weltweit unsere Gemeinschaftsgefüge gefährlich ins Wanken bringen und Anschauungsverschiebungen quer durch alle Milieus und Gesellschaftsschichten verursachen.

Wir leben so gesehen entgegen der allgemeinen Annahme nicht in einem nach- oder postideologischen, sondern ganz im Gegenteil in einem nahezu hysterisch anmutenden granularideologischen Zeitalter. Ein steter Strom kleinster alltäglicher Ideologiepartikel, Mikromeinungen und Nanoüberzeugungen, beliebig zusammengesetzt aus unzähligen Lifestyleangeboten, die sich aus ernährungstechnischen, alternativmedizinischen, esoterischen, politischen und unterhaltungsindustriellen Ritualen – die Liste ist beliebig erweiterbar – zusammensetzen und die wir alle täglich selbst erzeugen, variieren oder verbreiten, bilden dabei die Basis.

Diese Garnularideologien installieren sich wie kleine Fascho-Apps in unseren Köpfen und befriedigen zuvorderst ein archaisches Stammesdenken samt Zugehörigkeits- und Distinktionsbedürfnis. Sie machen die Partizipienten und Anhängerinnen des jeweiligen Lifestyleangebots automatisch zu Angehörigen diverser Mikrotribes, kleinster Gemeinschaften, die sich über ein spezifisches Merkmal zwanghaft von allen anderen unterscheiden wollen.

Als Resultat umgibt uns nun das massenhaft Einzigartige und Querdenkerische, wohin das Auge blickt, das Ohr sich wendet, unsere Sinne sich zu verlieren vermögen. So werden eher spielerisch und ironisch Affekte der Ignoranz und Gleichgültigkeit und harmlos erscheinende totalitäre Verhaltensweisen mobilisiert, ohne dass es den Akteurinnen und Akteuren selbst überhaupt auffällt.

Sie alle eint einzig das größenwahnsinnige Bewusstsein ihres heterogenen und einzigartigen Alleinstellungsmerkmals, und in diesem stolzen Bewusstsein sind offenbar einige gerne bereit, wenn es sein muss, partiell und kurzzeitig zu einer homogenen Masse zusammenzufinden, um in Aufmärschen ihren selbstverliebten Pseudoindividualismus zu demonstrieren. So kommt es, dass sich plötzlich unvorhergesehene Interessengemeinschaften bilden und neue, vollkommen inkompetente politische Kräfte und abstruse Wertegemeinschaften formieren, die vor kurzem noch die fantasiebegabtesten Satiriker nicht besser hätten erfinden können.

Abwehrmechanismen

Was so für viele immer schon ganz unverhohlen Volk, Nation, Religion, ideologisches Blockdenken oder Heimat bedeutet, wird von anderen, bei denen diesbezüglich vielleicht noch rudimentäre, aufklärerische Abwehrmechanismen übrig sind, durch einen oder auch mehrere Mikrotribes ersetzt, die stellvertretend das abstrakte Bedürfnis dieses Stammesdenkens erfüllen.

Das schwammig Eigene kann dann guten Gewissens wieder gefeiert, das noch schwammigere Fremde und Andere schamlos abgelehnt werden. Die Granularideologien gaukeln uns allen dabei vor, mehr zu sein und mehr sein zu können, als wir sind. Der gesellschaftspolitische Zustand der Welt ist unter diesem Blickwinkel schlussendlich nichts anderes als ein monströser, pandemischer Auswuchs all unserer singulären Narzissmen, ignoranten Granularideologien und mikrotribalistischen Distinktionsmanien. Die aktuell immer bizarrer erscheinenden politischen Verhältnisse sind so gesehen weniger Ursache als erschreckende Symptome dieses globalen, vollkommen aus dem Ruder laufenden kommunikativen Super-GAUs. Ich habe mich in den letzten Tagen oft gefragt, welche Rolle die hier beschriebenen Granularideologien in einer Situation wie der jetzigen, in der ein vollkommen menschenverachtender Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine stattfindet, spielen.

Ästhetisierung des Krieges

Ich bekomme immer stärker das Gefühl, dass durch die vielen Bilder und Meinungen, durch die gezielten Falschinformationen seitens Russlands, die oft nur allzu kommunikationswütig aufgenommen und weitergeleitet werden, und durch eine Vielzahl an unnötigen Sekundärdiskursen und verstörenden martialischen und nationalistischen Inszenierungen auf allen medialen Kanälen eine Stimmung entsteht, die uns allen, neben der realen Katastrophe und dem Unverständnis, wie im 21. Jahrhundert so ein Wahnsinn überhaupt möglich sein kann, zusätzlich die Sinne vernebelt.

Dieser Tage erscheint Jürgen Berlakovichs neuer Roman "Nobot. Twitter Noir" im Klever-Verlag (€ 18,– / 110 Seiten). Präsentiert wird das Buch am 4. April in der Alten Schmiede in Wien. www.alte-schmiede.at

Gedrechselte Sätze, bearbeitete Bilder und in Echtzeit gestreamte Videos der Angriffe und Bombardierungen strömen tausendfach neben banalen Werbeeinschaltungen und eitlen Statusmeldungen in unsere Timelines. Was genau aber ist ihre Funktion? Welchen Nutzen bringen sie? Sind sie imstande, etwas an der Tatsache dieses sinnlosen Krieges zu ändern, oder verstärken sie mit jeder geteilten Meldung unbewusst nur umso mehr die menschenverachtende Botschaft des Aggressors? "Die Ästhetisierung des Krieges ist eine falsche Anwendung der Einbildungskraft", sagte Alexander Kluge vor kurzem in einem Interview in der Zeit, und "... das ist genau das, was ich so gefährlich finde". Das ist ein interessanter, allgemeiner Gedanke, dem ich vieles abgewinnen kann. Der Tatsache aber, dass es einen klaren, durch nichts zu relativierenden barbarischen Angriffskrieg als Faktum gibt, hilft leider auch diese Erkenntnis schlussendlich nicht wirklich weiter. Ich formuliere diese Sätze hier mit einem gewissen Unbehagen, ästhetisiere ich doch mit ihnen in gewisser Weise selbst den Krieg, indem ich sie hier für eine Publikation niederschreibe.

Was bleibt uns allen also zu tun, allgemein und speziell in dieser Lage? Helfen, wo wir können! Klar Stellung beziehen, kühlen Kopfes und offenen Herzens durch die Welt gehen und den Diskurs untereinander und in den öffentlichen und sozialen Medien verantwortungsbewusst und ohne Kalkül führen. Nicht all die gezielt und plump als Informationswaffen eingesetzten Fake-Diskurse von Entnazifizierung bis Biowaffen aufnehmen und perpetuieren.

Wir sollten wachsam sein und dabei stets unsere eigenen kommunikativen Gewohnheiten und Qualitäten hinterfragen und reflektieren, denn gerade hier werden, systemimmanent und unbewusst, die Strukturen geschaffen, die unsere momentane politische Weltlage in so vielen erschreckenden Facetten erst ermöglichen.

In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Gilles Deleuze und Félix Guattari schließen:"Es mangelt uns nicht an Kommunikation, im Gegenteil, wir haben ein zu viel davon. Es fehlt uns an schöpferischer Kraft. Es fehlt uns an Widerstand gegenüber der Gegenwart." (Jürgen Berlakovich, 19.3.2022)