Erschreckend schnell sind erschreckend viele Menschen wieder in ein Freund-Feind-Denken verfallen, das man glaubte längst überwunden zu haben: "Die Russen" sind plötzlich der Feind, "die Ukrainer" der Freund. Aber natürlich, eigentlich müßig, es nochmals zu betonen, besteht Russland nicht nur aus Putin. Es ist, auch wenn sein Herrscher gerade alles tut, um das vergessen zu machen, ein faszinierendes Land mit einer langen, auch vom Westen geprägten Geschichte, mit einer Mentalität, genauso liebenswert oder abstoßend, wie es die unsere ist.
Wer diesen anderen Blick auf Russland werfen möchte, gerade jetzt, dem sei Alissa kauft ihren Tod empfohlen, der jüngste Erzählband einer der wichtigsten Schriftstellerinnen des Landes: Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren und in Moskau aufgewachsen, von der erst im letzten Jahr Eine Seuche in der Stadt erschienen war und die 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde.
Im Original unveröffentlicht
Alissa kauft ihren Tod versammelt nun nicht nur die beiden 2019 im russischen Original erschienenen Erzählzyklen Freundinnen und Vom Körper der Seele sowie die zwei 2002 in einem weiteren Band veröffentlichten Erzählungen Züü-rich und Russische Frauen, sondern auch den im Original noch unveröffentlichten Zyklus Sechs mal sieben Miniaturen, der 2020 entstand.

Bemerkenswert ist dabei (leider) noch immer, wen oder was die Autorin als Inhalt ihrer Geschichten auserkoren hat, was sie für erzählenswert befindet: Es sind, mit wenigen Ausnahmen, Frauen und ihre alltäglichen Schicksale, von denen diese mal nur wenige Seiten langen, mal fast zur Novelle ausartenden Texte erzählen.
Man kann diese Geschichten durchaus als Ode an die Frauen lesen, wie Ulitzkaja sie bereits in Andere brauche ich nicht …, dem ersten Text des Bandes bzw. des Zyklus Freundinnen, anstimmt: "Andere brauche ich nicht, ich liebe diese leichtsinnigen, weisen, schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen, diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen, von denen die Engel im Himmel noch lernen könnten … Ich brauche euch, wie ihr seid – denn ich bin wie ihr und passe zu euch."
Unfassbar stark sind diese Frauen, und selbstständig, auch wenn sie enorm viel Energie und List dafür aufwenden, einen materiell potenten Mann an Land zu ziehen – womit Ulitzkaja, ohne groß Worte darüber zu verlieren, auch gleich einiges über die sozioökonomische Lage, auch und gerade für Frauen, in Russland erzählt.
Es wird in Gemeinschaftswohnungen mehr gehaust als gelebt, das Tafelsilber ausgeliehen, um darin Kaviar zu servieren, während die vier Wände, in denen man das tut, hierzulande maximal als SubStandard durchgingen. Bei allem Sozialrealismus ist die Erzählerin dabei immer für eine Überraschung gut: Da entdecken medizinisch ausgebildete Freundinnen nach gemeinsamen Alkoholexzessen erst ihre homoerotische Ader und dann einen Knoten in der Brust, weshalb die Sache letztlich im Krankenhaus endet. Dazu mischt Ulitzkaja genau die richtige Dosis Magie: Eine Frau fängt nach einer aseptisch emotionslosen Scheidung von einem Fleischfresser an, sich nur noch von Äpfeln in verschiedenen Darreichungsformen zu ernähren, wird aber nicht etwa anorektisch und verstirbt in einer tristen Klinik, sondern verwandelt sich in einen zauberhaft bunten Schmetterling, einen Apfelwickler, und entschwindet an einen Ort, wo zahlreiche andere dieser Tiere herumflattern. "All diese Insekten hatten nichts von Kafkas Käfer", endet die kurze Erzählung. Auch ein Fotograf, der schwerkrank wird, muss bei Ulitzkaja keinen erbärmlichen Tod sterben: Bar- und leichtfüßig verschwindet er in seiner eigenen Fotografie.
Unverkrampft experimentell
Ganz unverkrampft experimentell schließlich die sechs mal sieben Miniaturen: Von sieben Weltuntergängen, Toden, Geburten, Krankheiten, Zwillings- und Ehepaaren erzählt Ulitzkaja hier, mit beißendem schwarzen Humor und einer guten Prise feministischer Grundhaltung. In einer dystopischen Zukunft begeht etwa ein gewisser Doktor Hahn durch Freisetzung eines tödlichen Virus monströsen Femizid – er rottet sämtliche Frauen aus, die mittlerweile 93 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Dass er durch dieses "Weibersterben", das ihm große Genugtuung bereitet, für das Ende der Welt sorgt, eintretend, "sobald die letzten Penisträger der letzten Generation des Homo sapiens gestorben waren", weiß der Doktor noch nicht. (Andrea Heinz, 19.3.2022)