
Der Hauptbahnhof von Wiener Neustadt war am 6. Jänner Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen Wiener und niederösterreichischen Jugendlichen, bei der auch Schüsse fielen, wegen denen kurzfristig die Südbahnstrecke gesperrt wurde.
Wien – Möglicherweise sollte man im Rathaus der niederösterreichischen Statutarstadt Wiener Neustadt einmal darüber nachdenken, Steuermittel in Tourismuswerbung zu investieren. Dann würde vielleicht der Zweitangeklagte bessere Gründe für eine Fahrt in die Bezirkshauptstadt angeben können. So klingt der Dialog zwischen Richterin Anna Marchart und dem 16-jährigen so: "Wozu fahren Sie nach Wiener Neustadt", will die Richterin wissen. "Ich hatte sonst nichts zu tun." – "Ihnen war fad?" – "Ja", erklärt der Vorbestrafte, warum es nicht die sicher zahlreich vorhandenen Sehenswürdigkeiten waren, die ihn am Nachmittag des 6. Jänner aus Wien herausgelockt haben.
Der in Syrien Geborene, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt ist, nahm jedenfalls gemeinsam mit sechs Freunden die Schnellbahn. Vier von ihnen sitzen nun mit ihm im Landesgericht für Strafsachen Wien. Vier sind ebenfalls 16 Jahre alt, einer 17, zwei sind russische Staatsbürger, einer ein in Österreich geborener Staatenloser sowie ein österreichischer Staatsbürger.
Drückende Überlegenheit der Wiener Neustädter
Eigentlich ist es aber seltsam, dass das Quintett auf den Anklagebänken sitzt. Denn bei einer Auseinandersetzung im und vor dem Parkhaus des Wiener Neustädter Hauptbahnhofs wurden zwei von ihnen leicht verletzt, von den mindestens 25 Mitgliedern der anderen Gruppe aber nur einer. Daher klingt es durchaus plausibel, dass sich vier der Angeklagten nicht schuldig bekennen und auf Notwehr plädieren.
Erstangeklagter M., auch er 16, ist der Einzige, der sich teilweise schuldig bekennt. Der von Florian Kreiner verteidigte Erstangeklagte gibt zu, "dass ich dem Typen zwei Fäuste und einen Kniestoß verpasst habe". Dadurch erlitt das Opfer einen nicht verschobenen Nasenbeinbruch und eine Schädelprellung, 500 der geforderten 2.000 Euro Schmerzengeld würde M. dafür zahlen.
Streit und Schlägerei bereits im Vorfeld
Das Ziel der Landpartie sei aber eigentlich eine Aussprache gewesen. "Wir waren alle im 15. Bezirk, ein Freund hat erzählt, dass er von drei Türken in Wiener Neustadt so verprügelt wurde, dass er ins Krankenhaus musste." Dem Ganzen soll ein Streit via Social Media um eine weibliche Jugendliche vorangegangen sein. Man beschloss, einen der Angreifer zu kontaktieren, behauptet der Erstangeklagte, es wurde ein Gesprächstermin in Wiener Neustadt vereinbart.
"In der S-Bahn riefen die ihn an und sagten, sie wollen kämpfen. Wir nicht", versichert der erst im September zu einer teilbedingten Haft wegen schwerer Körperverletzung verurteilte M., dass man auf eine friedliche Klärung aus war. Bei der Ankunft wurde klar, dass dieser Plan seine Schwächen hat: Auf dem Bahnsteig warteten bereits mindestens zwei Dutzend der gegnerischen Gruppe. "Die haben dann gesagt, wir sollen zum Parkdeck gehen", erinnert der Erstangeklagte sich. "Das war keine wahnsinnig schlaue Idee", merkt die Richterin dazu an.
Dort will M. mit dem gleichaltrigen Eren E. aber tatsächlich noch kurz verbal kommuniziert haben. Der Inhalt soll ungefähr so gelautet haben: "Warum schlagt ihr meinen Freund zu dritt?" – "Wir waren angetrunken." – "Drei gegen eins ist trotzdem unmännlich, oder nicht?" – "Was redest du so frech?" – "Ich rede, wie ich will!" Während des Gesprächs soll E. sich schon so weit genähert haben, dass die beiden Nasenspitze an Nasenspitze standen. Dann sei er gewalttätig geworden, gesteht der Erstangeklagte ein. Dass E., wie einer von M.s Freunden berichtet, selbst schon die Fäuste geballt haben soll, will M. nicht bemerkt haben, da er zu nahe gestanden sei.
Mädchen im Stiegenhaus
E. sei jedenfalls zu Boden gegangen und die Hölle losgebrochen. Die Wiener Neustädter Überzahl prügelte auf die Besucher aus Wien ein, dem Drittangeklagten brach dabei ein Stück Zahn heraus. Angesichts der Relation von mindestens drei zu eins entschieden sich die Angeklagten, fluchtartig zurück in die Bundeshauptstadt zu fahren. Sie liefen ins Treppenhaus, das aber bereits verstopft war – angeblich mit jungen Frauen. "Was haben dort Mädchen zu suchen?", echauffiert sich der Erstangeklagte.
Auch auf den Stiegen sei es von den Nachstürmenden zu Schlägen gekommen, die größte Überraschung wartete aber zu ebener Erde: Als man aus dem Parkhaus lief, sei ein Auto mit "älteren Männern", also 19 bis 20 Jahre alten, vorgefahren, einer von denen habe eine goldfarbene Schusswaffe gezogen und mehrere Schüsse abgegeben. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Schreckschusswaffe, die ÖBB stellte aus Sicherheitsgründen dennoch kurzfristig den Zugverkehr auf der Südbahnstrecke ein und alarmierte das in Wiener Neustadt ansässige Einsatzkommando Cobra.
"Wir haben uns alle nur verteidigt, bis auf ich ganz am Anfang", fasst M. zusammen und versteht auch nicht ganz, warum seine Freunde hier sind. Ernst Schillhammer, Vertreter des Fünftangeklagten, prangert es im Fall seines Mandanten ebenso an: "Ich habe so einen Strafantrag noch nie gesehen. Der Vorwurf gegen meinen Mandanten lautet, er soll vor Ort gewesen sein 'und durch seinen Aufenthalt und die Bereitschaft zum jederzeitigen Eingreifen' zur Körperverletzung beigetragen haben."
Verletzter korrigiert seine Aussage
Zeuge Eren E., gegen den selbst ein Verfahren läuft, muss bei seiner Einvernahme dann eingestehen, dass er bei der Polizei nicht immer die ganze Wahrheit gesagt hat. So behauptete er ursprünglich, er kenne den Wiener, mit dem er die ursprüngliche Auseinandersetzung hatte, gar nicht. Nun sagt er doch, er habe ihn gesehen, wisse seinen Vornamen und dass er Türke sei. Unmittelbar nach dem Vorfall im Parkhaus hatte er auch noch behauptet, seine Gruppe habe bereits auf dem Parkdeck gewartet, nun gibt er zu, dass ein Empfangskomitee auf dem Bahnsteig bereitstand.
"Sie haben vorher sechs oder sieben Namen von Ihren Begleitern genannt, es waren aber viel mehr auf dem Bahnsteig?", erkundigt sich Marchart. "Die anderen kannte ich nicht." – "Wo sind die hergekommen?" – "Vom Bahnhof", lautet die überraschende Antwort. "Und warum sind die dann ins Parkhaus mitgekommen?" – "Zuschauen", antwortet E. lapidar. "Beim Reden?", wundert sich die Richterin. Das sei nämlich der Grund des Treffens gewesen, meint dieser Zeuge. "Und wieso brauchen Sie 20 Leute dabei, um was zu besprechen?", kann Marchart nicht ganz folgen. "Die sind einfach mitgekommen", behauptet E., ehe er später zugibt, zumindest sieben im Vorfeld selbst als Verstärkung angefordert zu haben.
Für weitere Zeugen und Erhebungen vertagt Marchart schließlich. (Michael Möseneder, 18.3.2022)