In ihrem Büro im Justizpalast in Wien hängen vier Gemälde Ihres Großvaters, des Malers Anton Lutz. Sie selbst sei künstlerisch nicht kreativ, bei Problemlösungen aber sehr wohl, sagt die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, Katharina Lehmayer zu Beginn des Gesprächs über die Krise in der Justiz, ihre Enttäuschung über einzelne der handelnden Personen. Gerechtigkeit und die Familie Leitl, aus der sie stammt.

STANDARD: Schon den neuen Parsifal in Linz gehört, wo Sie bis Herbst gelebt haben? Sie lieben ja klassische Musik.

Lehmayer: Nein, aber ich war gestern in der Staatsoper und habe mir die Salome angehört: beklemmend schön. Die Gelegenheit, dass ich nach dem Büro über den Ring hinüber zu Fuß in die Oper oder ins Burgtheater gehen kann, die nütze ich jetzt aus. Großer Luxus.


"Die Budgets der Justiz bis vor drei Jahren war nicht nur ungerecht, sie waren eine Zumutung": OLG-Chefin Katharina Lehmayer
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: In Ihrer Jugend waren Sie dank Ihrer älteren Geschwister mehr mit Patti Smith und Leonard Cohen konfrontiert ...

Lehmayer: …stimmt.

STANDARD: Sehr geprägt durch ihre sechs älteren Geschwister, der Älteste ist Christoph Leitl, und Ihren Vater? Er war Ziegelfabrikant und hat als einer der ersten in Österreich die Mitarbeiter am Unternehmen beteiligt.

Lehmayer: Sicher haben mich die Großfamilie und der sozialpartnerschaftliche Zugang meines Vaters geprägt. Und nicht zuletzt wurde mein Mundwerk in der Familie geschult, als Jüngste muss man sich verbal schon durchsetzen.

STANDARD: Wollten Sie nie ins Familienunternehmen gehen?

Lehmayer: Ich hab mich früh für Jus entschieden. Der Plan war, dass ich Rechtsanwältin werde und als solche auch Firmenagenden betreue.

STANDARD: Sie wurden dann aber lieber Richterin. 2016 wurden Sie in Linz die erste Präsidentin eines österreichischen Oberlandesgerichts (OLG), seit November sind Sie die erste Frau an der Spitze des OLG Wien. Hier haben Sie 3300 Mitarbeiter, davon 800 Richterinnen und Richter. Haben sich die Mitarbeiter schon an Sie gewöhnt?

Lehmayer: Jein, viele kennen mich ja noch gar nicht. Ich habe sehr gern Kontakt zu den Leuten und wollte gleich zu Beginn alle 45 Bezirksgerichte und die neun Gerichtshöfe im Sprengel des OLG Wien besuchen, aber Corona hat mir leider einen Strich durch die Rechnung gemacht.

STANDARD: Hatten Sie gar keinen Spundus vor dem Job hier?

Lehmayer: Doch, ich habe schon Spundus. Aber das ist auch ein Frauenthema: Was tut man, obwohl man Spundus hat. Und ein bisschen davon ist auch gut – im Sinne von Respekt vor der Aufgabe haben und sich zu überlegen, was man macht, wenn es schiefgehen sollte.

STANDARD: Ist Ihr Plan B, wieder als Familienrichterin zu arbeiten wie zu Beginn Ihrer Karriere im Bezirksgericht Wien Döbling?

Lehmayer: Ganz genau. Ich habe immer einen Plan B. Ich will nie in eine Situation kommen, in der ich mich nicht wohlfühle und nicht weiß, wie ich das ändern kann. Wenn ich das Gefühl habe, ich kann hier am OLG Wien nicht realisieren, was ich möchte oder wenn ich mich nicht wohlfühlen würde hier, dann arbeite ich wieder als Richterin in der Rechtsprechung. Ganz sicher.

STANDARD: Sie haben ja in Wien studiert. Haben Sie Linz, wo Leitls sehr bekannt waren, verlassen, um in der Anonymität der Großstadt zu leben?

Lehmayer: Ja, raus aus Linz und rein in die Anonymität. Es war schon mühsam manchmal in Linz: Einmal in der Straßenbahn schaut mich der Fahrer an und sagt: "Aha. Leitl-Mund." (lacht)

STANDARD: Ist Ihnen in der U-Bahn in Wien nicht passiert.

Lehmayer: Nein.

Katharina Lehmayers stammt aus der Unternehmerfamilie Leitl, ihr ältester Bruder ist Ex-Wirtschaftskammer-Chef Christoph Leitl.
Foto: APA/Heinz-Peter Bader

STANDARD: Sie waren damals in den 1990ern eine der vier Sprecherinnen der Richteramtsanwärter und haben die Zeitung "Flatterblatt" gemacht. Weil darin Kritisches stand, durften Sie das Blatt nicht am Oberlandesgericht verteilen?

Lehmayer: Wo haben Sie das denn her? Ja, wir haben beispielsweise ein Interview gemacht, das dem damaligen OLG-Präsidenten nicht so gefallen hat. Das trug uns eine Standpauke ein. Wir waren eh brav, aber nicht so brav, wie es damals noch gefragt war.

STANDARD: Einen Kollegen mit Zöpfchen sollten Sie zum Friseur schicken.

Lehmayer: Taten wir aber nicht.

STANDARD: Heute ist die Justiz in einer tiefen Krise. Aus Chats erschließt sich, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft von Vorgesetzten unter Druck gesetzt wurde, es soll "Spitzel" gegeben haben, Staatsanwälte sollten observiert werden. Gegen den suspendierten Sektionschef Christian Pilnacek und den Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien, Johann Fuchs, und Exjustizminister Wolfgang Brandstetter wird ermittelt – Unschuldsvermutung vorausgesetzt. Wie konnte es so weit kommen?

Lehmayer: Es ist ein verheerendes Bild, aber die Vorfälle betreffen nicht die gesamte Justiz mit ihren 12.000 Leuten, die ihre Arbeit mit hohem Berufsethos, Integrität und Engagement machen. Es schmerzt, weil die Öffentlichkeit nicht zwischen Staatsanwaltschaften, Gerichten und Ministerium unterscheidet und so die gesamte Justiz in Mitleidenschaft gezogen wird. Es gab Vorgänge, die straf- und disziplinarrechtlich geprüft werden – abseits dessen funktioniert die Justiz hervorragend.

STANDARD: Verstehen Sie, wie das alles passieren konnte?

Lehmayer: Ich verstehe es absolut nicht und mir fehlt auch jedes Verständnis für die Ausdrucksweise in den Chats. Es ist auch nicht so, wie viele meinten, dass wir alle solche Chats in unseren Handys haben. Nein, nie und nimmer haben wir solche Chats! Das ist nur der Versuch, solche Respektlosigkeiten als "ganz normal" hinzustellen, aber das sind sie nicht. Von einzelnen handelnden Personen bin ich sehr enttäuscht.

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Chats des mittlerweile suspendierten Sektionschefs Christian Pilnacek (links) und Exjustizministers Wolfgang Brandstetter werfen viele Fragen auf.
Foto: Georges Schneider / picturedesk.com

STANDARD: Es wurde offenbar auch politischer Einfluss auf Besetzungen genommen. Sie plädieren dafür, dass künftig alle von unabhängige Personalsenaten vorgenommen werden?

Lehmayer: In der ordentlichen Gerichtsbarkeit fehlen nur noch zwei Puzzlesteine für ein flächendeckendes System der Personalsenate, in denen die von Richterinnen und Richtern gewählten Mitglieder die Mehrheit haben und die unabhängig und weisungsfrei Besetzungsvorschläge machen. Justizministerin Zadic hat bereits eine wichtige Änderung vorgenommen: Wenn die Ministerin keinem der Vorschläge folgen und dem Bundespräsidenten nicht eine Erstgereihte zur Ernennung vorschlagen will, muss sie den Personalsenat noch einmal damit befassen und ihre Gründe darlegen. Dieses System fehlt jetzt nur noch für Richteramtsanwärterinnen und Vize-Präsidenten und Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, auch da sollen Personalsenate eingesetzt werden. Das müsste bis Ende des Jahres umgesetzt sein.

STANDARD: Und was halten Sie von einem Generalstaatsanwalt?

Lehmayer: Das hängt von der Ausgestaltung ab: Wenn die Regierungsmehrheit auf seine Bestellung Einfluss nehmen kann, können wir gleich beim jetzigen System bleiben. Entscheidend wird sein, ob die Politik bereit ist, hier Macht abzugeben. Wir werden das genau beobachten.

STANDARD: Sie wurden selbst zwei Mal als Justizministerin gehandelt. Würde Sie der Job interessieren?

Lehmayer: Nein. Für eine Politikerin bin ich zu wenig anpassungsbereit. Ich hätte wahrscheinlich sehr schnell auf meinen Plan B zurückgreifen müssen.

STANDARD: Kurz waren Sie auch Assistentin am Institut für Öffentliches Recht, bei Professor Heinz Mayer. Er ist einer der Proponenten des Antikorruptionsvolksbegehrens. Werden Sie es unterschreiben?

Lehmayer: Ja.

STANDARD: Sehen Sie den Rechtsstaat in Gefahr?

Lehmayer: Nein, denn es gab nie den Versuch, auf unabhängige Gerichte Einfluss zu nehmen. Ich habe in meinem ganzen Richterinnenleben seit 1990 keinen einzigen Interventionsversuch erlebt.

STANDARD: Eines Ihrer Ziele ist, dass Strafverfahren beschleunigt werden und Richter künftig wie Staatsanwälte in Teams arbeiten und juristische Mitarbeiter bekommen. Waffengleichheit mit gut dotierten Anwälten und Litigation-PR-Beratern werden Sie aber nicht so rasch herstellen können?

Lehmayer: Wir können im Ressourceneinsatz besser werden: Ich bemühe mich darum, dass vorsitzende Richter im Gerichtssaal der Armada von Rechtsanwälten und den Staatsanwälten künftig nicht mehr de facto alleine gegenübersitzen.

Strafrichterinnen und -richter sollen künftig in Teams arbeiten und von juristischen Mitarbeitern unterstützt werden. Im Bild: Buwog-Richterin Marion Hohenecker.
Foto: APA/Georg Hochmuth

STANDARD: Die Buwog-Richterin hat für die schriftliche Urteilsausfertigung mehr als ein Jahr gebraucht. Bevor es so weit war, haben Sie in einem Interview etwas Druck gemacht …

Lehmayer: Ich habe in dem Interview nur gesagt: Ich erwarte, dass das Urteil bald kommt…

STANDARD: Haben Sie Verständnis dafür, dass es so lang gedauert hat?

Lehmayer: Ja, absolut. Mein Ziel ist, dass solche Verfahren künftig anders laufen. Auch der zweite Berufsrichter würde für diese Causa freigestellt und es wären ein oder zwei juristische Mitarbeiter dabei, die die Richter unterstützen. Die Buwog-Verhandlung hat drei Jahre gedauert und damit bin ich sehr zufrieden. Beim Ermittlungsverfahren waren es neun Jahre. Die Verfahrensdauer wird immer wieder bemängelt, aber zu Unrecht, die Justiz liegt da sehr gut. 80 Prozent der Gerichtsverfahren sind in sechs Monaten erledigt. Und die Justiz bearbeitet drei Millionen Geschäftsfälle im Jahr, von denen gerade einmal drei Prozent auf Strafverfahren entfallen. Aber die sind halt medial oft sehr präsent.

STANDARD: Gibt es Gerechtigkeit?

Lehmayer: Gerechtigkeit ist immer anzustreben. Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Frage ist aber eben: Was ist gleich?

STANDARD: Haben Sie in der Justiz je etwas Ungerechtes erlebt?

Lehmayer: Die budgetäre Ausstattung der Justiz bis vor drei Jahren.

STANDARD: Damals sprach Justizminister Clemens Jabloner vom stillen Tod der Justiz…

Lehmayer: … und ich habe ihm gesagt: "Wir sterben sicher nicht still, ich weigere mich, still zu sterben." Diese Budgets waren nicht nur ungerecht, sie waren eine Zumutung. Jetzt sind wir am Weg von der Intensiv- zur Normalstation, wir werden noch einige Zeit brauchen, um uns von dieser Misswirtschaft in Bezug auf unsere finanzielle Ausstattung zu erholen.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht’s im Leben?

Lehmayer: Jedenfalls auch um Gerechtigkeit.

(Renate Graber, 19.3.2022)