Vor allem Frauen und Kinder flüchten vor den russischen Bomben in der Ukraine in die EU. Das ist anders als 2015 und 2016, als großteils Männer kamen. Die schiere Zahl – bis dato 3,3 Millionen Menschen – könnte dennoch zu Konflikten führen.
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Brüssel/Wien – Die EU plant für die aus der Ukraine vertriebenen Menschen, die in einem EU-Land aufgenommen und versorgt werden, Finanzhilfen in der Höhe von mindestens zehn Milliarden Euro. Nach Informationen des STANDARD könnte das Geld relativ rasch und ohne neue Budgetbeschlüsse den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt werden, der größte Teil davon ginge an Polen. Das Land hat derzeit knapp zwei von 3,3 Millionen Menschen aufgenommen. EU-Budgetkommissar Johannes Hahn könnte ein breites Paket von Hilfen aus nicht verbrauchten EU-Fonds seit 2014 abdecken. Die Kommission ist bereit zu größtmöglicher Flexibilität bei Umschichtungen zwischen einzelnen Töpfen und auch zu einer 100-Prozent-Finanzierung, also ohne den üblichen Zwang zur Kofinanzierung von Projekten.

Allein aus dem Kohäsionsfonds wären für dieses Jahr neun Milliarden Euro darstellbar. Dazu kämen jeweils hunderte Millionen Euro aus dem Sozialfonds, aus Fonds für Migration und Asyl, für innere Sicherheit, Bildung, Beschäftigung und Weiterbildung.

Damit könnte neben Soforthilfe für Nahrung, Kleidung oder Wohnen alles finanziert werden, was der Integration der Flüchtlinge nützt: Sprachkurse, mobile Krankenhäuser, sanitäre Einrichtungen. Die Abwicklung soll möglichst unbürokratisch und ohne komplizierte Projektanträge erfolgen.

3,3 Millionen Geflüchtete

Seit dem Angriff der russischen Armee am 24. Februar haben rund 3,3 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Die meisten fuhren mit dem Zug oder Autos direkt in ein angrenzendes EU-Land. 1,9 Millionen von ihnen – großteils Frauen und Kinder – kamen in Polen an, 230.000 in der Slowakei, 280.000 in Ungarn, knapp 500.000 in Rumänien, 350.000 im kleinen Moldau, das nur 2,6 Millionen Einwohner hat, Stand Samstag.

Was sich in Mittel- und Osteuropa abspielt, wird von manchen mit der Migrationswelle von 2015 und 2016 verglichen. Viele fragen sich, ob Europa diesmal besser vorbereitet ist; ob man mit all den Problemen zurande kommen wird, die sich aus den nach wie vor unbefriedigenden gemeinschaftlichen Regelungen für Migration und Asyl ergaben.

Am Freitag ließ die tschechische Regierung mit Skepsis aufhorchen: Sie sei mit 270.000 Flüchtlingen am Limit. Was wird erst passieren, wenn fünf, sechs Millionen Menschen in der EU ankommen?

Diesmal anders

Die EU-Kommission glaubt, es könnte diesmal anders, solidarisch, laufen – aber auch in ganz anderen Dimensionen, was den finanziellen Einsatz betrifft. In internen Dokumenten, in die der Standard Einblick nehmen konnte, ist von mindestens zehn Milliarden Euro die Rede, die aus EU-Budgets relativ rasch freigemacht werden könnten.

Das Geld wäre vorhanden, müsste von den nationalen Regierungen nicht erst extra aufgebracht werden wie beim EU-Türkei-Pakt 2016. Bei diesem gab es zwei mal drei Milliarden Euro für 1,2 Millionen Flüchtlinge, verteilt auf mehrere Jahre.

Diesmal könnte die Kommission nichtverbrauchte EU-Gelder aus der Budgetperiode 2014 bis 2020 umschichten und auszahlen, etwa aus dem Kohäsionsfonds oder für innere Sicherheit. Mit Zustimmung von Ministerrat und EU-Parlament ginge das relativ einfach und rasch.

Hoffnung auf Rückkehr

Aber so weit ist man noch nicht. Noch besteht die Hoffnung, dass der Krieg durch Verhandlungen bald beendet werden kann, die Geflohenen wieder nach Hause zurückkehren.

Die Hilfen und die Unterbringung laufen bisher vor allem in nationaler Verantwortung. Die EU hat an Nothilfen an die Ukraine etwa für Nahrung, Gesundheit und Ähnliches 550 Millionen Euro ausgegeben. 420 Millionen Euro gingen an EU-Aufnahmeländer, um Kapazitäten zu schaffen.

Flüchtlingskoordinator Michael Takacs will, dass die Dinge besser als während der Fluchtbewegung vor sieben Jahren laufen. Er setzt auf Koordination und Vernetzung mit der Zivilgesellschaft und NGOs.
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EU-Staaten diesmal aufnahmebereit

2015 war über all diese Dinge monatelang gestritten worden. Es kam zur Spaltung von Ost- und Westeuropa. Diesmal gibt es in allen EU-Staaten viel Aufnahmebereitschaft, bei den Bürgern und den Regierungen – zumindest vorläufig. Ideologische Auseinandersetzungen um Aufnahmequoten und Lastenverteilung spielen keine Rolle – noch.

Das hat damit zu tun, dass die Ankommenden nicht auf Basis von nationalen Asylregelungen behandelt, werden, sondern auf Basis der erstmals angewendeten EU-Massenzustrom-Richtlinie von 2001. Sie sind rechtlich "Vertriebene" (displaced persons), nicht "Flüchtlinge" (refugees).

Rascher Exodus

Die Zahlen zeigen, dass der Exodus aus der Ukraine anders läuft als frühere Flüchtlingswellen. In vier Kriegen in Ex-Jugoslawien zogen sie sich über fast zehn Jahre hin. Von Frühjahr 2015 an hatte es gut ein Jahr lang gedauert, bis 1,8 Millionen Flüchtlinge über die Balkanroute und das Mittelmeer in den Schengenraum der EU gekommen waren. Deutschland, Österreich, Schweden nahmen fast drei Viertel aller Ankommenden auf, die Osteuropäer verweigerten sich.

Seit Februar strömt jede Woche eine Million Menschen über die EU-Grenzen. Aber selbst in Polen, das bei Asylwerbern bisher abwehrend war, mobilisiert die Regierung in Warschau nun alles, um die Leute erstzuversorgen. Anders in Ungarn: Premier Viktor Orbán hält sich zurück. Warschau hingegen repariert seinen ramponierten Ruf und hofft auf EU-Milliardenhilfe.

Mindestens so wichtig wie die positive gesellschaftliche Grundstimmung für die Ukrainer dürfte jedoch sein, dass der Umgang mit den Vertriebenen in rechtlicher wie finanzieller Hinsicht ein völlig anderer ist, weil sie direkt vom Kriegsgebiet im Nachbarland kommen: Sie haben – anders als Asylwerber – EU-weit sofort das Recht auf Arbeit. Sie sollen sich im Idealfall selbst versorgen können, nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein.

Östliche Partnerschaft

Der Grund: Vor sechs Jahren waren die meisten Migranten nicht direkt aus einem Kriegsgebiet geflohen. Es handelte sich um Syrer, Iraker, Afghanen, Frauen und Männer, die zuvor bereits länger in Drittstaaten wie der Türkei gelebt hatten. Aus Afrika kamen Flüchtlinge vor allem über Libyen, aber auch viele Wirtschaftsflüchtlinge aus Marokko oder Algerien. Um im EU-Raum ankommen zu können, mussten sie zuerst eine EU-Außengrenze illegal überqueren, um dann in einem EU-Land um Asyl anzusuchen zu können, mit langen Verfahren.

Die Ukraine ist über die Östliche Partnerschaft mit der EU eng verbunden, die Menschen von dort können ohne Visum für drei Monate frei einreisen. Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern haben im EU-Raum bereits gearbeitet, studiert, haben Freunde. All das hat die Entscheidung der EU-Innenminister erleichtert, den Vorschlag der Kommission auf Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie für temporären Aufenthalt anzuwenden.

Keine Einzelverfahren

"Vertriebene" müssen keine individuellen Fluchtgründe nachweisen, es ist auch egal, welche Nationalität oder ethnische Herkunft sie haben: Sie müssen nur bei Kriegsausbruch dauerhaft in der Ukraine ihren Lebensmittelpunkt gehabt haben. Als Vertriebene haben sie zunächst ein Jahr Aufenthaltsrecht im EU-Raum, können sich ein Land ihrer Wahl aussuchen. Sie werden dort minimal sozialversichert und bekommen vom Staat Unterstützung, wenn sie sich durch eigene Arbeit nicht ernähren können.

Anders ist das bei Drittstaatsangehörigen, die sich nicht "ständig" in der Ukraine aufhielten, zum Beispiel Gastarbeiter oder Studierende aus aller Welt. Sie sollen dem Geist der EU-Richtlinie nach in ihre Heimatländer zurückkehren. Die Umsetzung der Richtlinie in Österreich hält sich streng an diese Vorgaben, in den meisten anderen EU-Staaten ist man im Umgang mit den Drittstaatsangehörigen großzügiger.

In Österreich schon spürbar

Ob dieses Versorgungsmodell ohne zentrale Steuerung aus Brüssel funktioniert, werden die nächsten Wochen zeigen. Da die Ukrainer sich EU-weit frei bewegen können, ist zu erwarten, dass viele westwärts ziehen, wenn es in den Erstaufnahmeländern "eng" wird. Das bekommen Deutschland und Österreich bereits zu spüren.

In einem Aufnahmezentrum in Wien: Die den Bomben entkommenen Menschen sind übermüdet und erschöpft. In der EU sollen sie Arbeit und Auskommen finden. Wie das genau geregelt wird, ist in Österreich in manchen Bereichen aber noch nicht klar.
Foto: Heribert Corn

So kommen in Österreich in diesen Tagen vermehrt größere Gruppen mit Ukraine-Vertriebenen an, vor allem aus Polen. Erstkontakt sind in der Regel freiwillige Helferinnen und Helfer, die etwa am Wiener Hauptbahnhof rund um die Uhr wachen.

Nächtliches Durchtelefonieren

Sie versorgen die übermüdeten Menschen mit Tee und Essen, bemühen sich um rasche Unterkünfte – und müssen dabei laut Schilderungen immer wieder improvisieren. Zwar betreibt die für die Grundversorgung der Ankommenden zuständige Bundesbetreuungsagentur BBU unter der Nummer +43 1 2676 870 9460 eine Hotline – doch dort hängt man vielfach in der Warteschleife.

Andere behördliche Ansprechstellen fehlen, vor alle nachts. Was also tun, wenn man um – sagen wir – drei Uhr morgens mit einem Bus mit 30 Frauen und Kindern konfrontiert ist? "Man setzt sich hin und telefoniert alle Hotels durch, die Zimmer für Flüchtlinge zur Verfügung stellen", sagt eine Helferin. Wie schon 2015 und 2016 haben Engagierte aus der Zivilgesellschaft auch aktuell einen Großteil der Erstankunftsarbeit übernommen.

Zusammenarbeit gesucht

Im Unterschied zur großen Fluchtbewegung vor sieben Jahren ist man bei den behördlichen Playern diesmal jedoch von Anbeginn an um Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und NGOs bemüht. Sowohl Michael Takacs, der im Bundeskanzleramt angesiedelte Flüchtlingskoordinator, sowie BBU-Geschäftsführer Andreas Achrainer betonen, wie wichtig ihnen die diesbezügliche Vernetzung ist.

Das Zusammenführen aller relevanten Behörden und Stellen sei Work in Progress, sagen beide – und äußern Zuversicht. Takacs weist diesbezüglich auf seine Erfahrungen als Kontaktmann ins Kabinett unter dem Flüchtlingskoordinator der Jahre 2015/2016, Christian Konrad, hin. Wie Konrad fehle aber auch Takacs jegliches Durchgriffsrecht, lautet hier eine Kritik. Er könne den Ministerien und Behörden Maßnahmen nur vorschlagen.

Angst vor Defizit

Laut dem jetzigen Flüchtlingskoordinator stehen für die Ukraine-Vertriebenen derzeit, neben mehreren Tausend von der BBU und der Diakonie gesammelten Privatangeboten, bundesweit 38.000 Betten in 7200 Quartieren zur Verfügung. Im Fall eines Maximalzustroms von – wie etwa der Migrationsexperte Gerald Knaus meint – bis zu 200.000 Flüchtlingen nach Österreich wäre das viel zu wenig.

Doch die Flüchtlings-NGOs und andere Anbieter sind beim Schaffen weiterer Wohnprojekte zurückhaltend: "Es wäre für uns wohl defizitär", heißt es bei einem wichtigen Player. Zwar sei der Tagsatz für Unterbringung eines erwachsenen Flüchtlings kürzlich von 21 auf 25 Euro erhöht worden, angesichts der herrschenden Inflation wären jedoch mindestens 26,50 Euro nötig.

Kein wirklich freier Jobzugang

Ungelöste Probleme im Umgang mit den Ukraine-Flüchtlingen gibt es aber auch abseits der Quartierfrage. Die genauen Bedingungen des Arbeitsmarktzugangs der Vertriebenen, mit dem möglichst verhindert werden soll, dass sie auf staatliche Minimalleistungen angewiesen sind, werden noch verhandelt.

In der Verordnung des Innenministeriums, mit der die EU-Richtlinie national umgesetzt wurde, steht über den Jobzugang nichts. Daher gelten auch hier bis dato die harschen Regeln der Grundversorgung. Laut diesen führt jeder Zuverdienst von mehr als 110 Euro pro Monat zum Verlust von Quartier, Versorgung und Krankenversicherung. Das erschwert einen Umstieg in ein normales Arbeitsleben, wie es die Ukrainerinnen und Ukrainer ja führen sollen.

Zudem sei auch deren Arbeitsmarktzugang nicht wirklich frei, kritisiert Christoph Riedl von der Diakonie. Laut aktuellem Stand der Dinge müssten arbeitswillige Vertriebene zusätzlich eine Beschäftigungsbewilligung vorweisen, die der potenzielle Arbeitgeber beim Arbeitsmarktservice beantragen muss und die abgelehnt werden kann. Dem Vernehmen nach laufen hier Verhandlungen mit dem Arbeitsministerium. (Irene Brickner, Thomas Mayer, 19.3.2022)