Kommt die SPÖ an die Macht? Das hinterfragt Psychologe Daniel Witzeling im Gastblog.

Lange schon ersehnt die stolze Sozialdemokratie die Wiedereroberung des einst unter Christian Kern an die ÖVP verlorenen Kanzleramts. Nun scheint die Zeit – von der Warte der SPÖ aus – reif für eine spektakuläre Rückholaktion. Am Sonntag lädt die SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner in die Wiener Aula der Wissenschaften zu einer Ansprache. "Die Zeit ist reif, diese Rede zu machen – angesichts der verheerenden Regierungsbilanz, von den Kanzler-Rücktritten, Ministerwechseln, Korruptionsvorwürfen, vom Pandemie-Management bis zu den Skandalen", so die Sprecherin von Rendi-Wagner. Hier stellt sich die berechtigte Frage, ob die Seismografen in der Löwelstraße verlässlich und valide die Stimmung der österreichischen Bevölkerung erfassen, oder ob es sich lediglich um eine Wunschvorstellung handelt.

Analyse politischer Klarträume

So wie einst die “neue“ Volkspartei mit einer smarten Zukunftshoffnung angetreten ist, Österreich zum Besseren zu transformieren, wollen nun die Genossen und Genossinnen von der linken Machtsphäre wieder an die Schalthebel, um ihre politischen Vorstellungen zu realisieren. Die Halbwertszeit des ehemaligen Superstars der Volkspartei, Sebastian Kurz, währte nicht allzu lange. Nun will sich Rendi-Wagner als politische Hoffnung und Alternative emporschwingen. Der stolzen Bewegung von Persönlichkeiten wie Willy Brandt oder Bruno Kreisky bleibt nur zu wünschen, dass es sich beim aktuellen raschen Schritt nach vorn nicht allein um einen luziden Traum der neuen Chefin handelt, der lediglich, wie beim damaligen Messias der ÖVP, durch unbewusste Motive wie das Streben nach Macht und Einfluss getrieben ist.

Die Traumdeutung, beruhend auf den Forschungen des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, betrachtet das Traumgeschehen als wichtige Informationsquelle unbewusster Erlebensweisen des Menschen und liefert möglicherweise für die jetzige Situation der SPÖ wichtige Erkenntnisse. In der Traumanalyse wird die Entstehung und Bedeutung der Träume thematisiert. Nach einer langen Durststrecke auf der Bundesebene der österreichischen Innenpolitik scheint sich nun ein Zeitfenster für die Sozialdemokraten aufzutun. Offen bleibt jedoch, ob jene dieses richtig erkennen und die Qualität der Zeit zu deuten in der Lage sind. Denn nur weil die Zeit scheinbar reif für einen Wechsel ist, muss diese im Verständnis einer politischen Tiefenpsychologie noch lange nicht bereit sein für einen Richtungswechsel im Interesse und nach den Projektionen der Sozialdemokratie.

Ist die Zeit für die SPÖ wieder gekommen?
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Psychodynamik der Politik

Das Wahlverhalten von Herrn und Frau Österreicher hat schon viele Wahlbeobachtende und Analysten im In- und Ausland irritiert. Man erinnere sich nur an die erste schwarz-blaue Bundesregierung unter Wolfgang Schüssel. Die innerseelischen Kräfte, die im Sinne der Psychodynamik beim Wahlvolk wirken, sind oft schwerer zu ergründen. Rendi-Wagner und ihre Mitstreitenden sollten in Form einer ehrlichen Introspektion darüber reflektieren, inwiefern ihr eigenes Verhalten eine positive Resonanz gerade bei breiten Gruppen potenzieller Wahlschichten erzeugt hat. Sind die Vorschläge rund um strengere Maßnahmen im Rahmen der Pandemiebekämpfung und das gezielte Setzen auf ein Profil als Expertin, welches die Parteichefin bewusst gewählt hat, gut angekommen? Oder fremdeln Sympathisanten der SPÖ mit ihr und ihrem Image noch immer?

Seele der Sozialdemokratie

Erneut, so wie es durch ihre Berater den Anschein zu erwecken scheint, den Versuch zu starten, eine weitere Projektionsoberfläche wie Sebastian Kurz, zu repräsentieren, nur diesmal als empathische Ärztin, wird zu wenig sein. Die Anführerin der SPÖ muss alle Bundesländerorganisationen und vor allem den kritischen Burgenländer Hans Peter Doskozil einbinden und für sich gewinnen, denn sonst wird die sozialdemokratische Maschinerie bei möglichen Wahlen nicht in die Gänge kommen. Hier ist ihre Kernaufgabe zuerst Einigkeit und Zusammenhalt im Inneren zu erreichen, bevor sie überhaupt an das Ziel denken kann, Österreich zu regieren. Ob ihr das gelingt, werden wir bei ihrer "Kanzlerin-Rede" sehen. (Daniel Witzeling, 22.3.2022)

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