Die aus Irpin geflohene Veronica.

Matthias Ziegler

Sozialarbeiterin Inna Karpinska.

Matthias Ziegler

Valentina Maksymenko mit vier ihrer neun Pflegekinder.

Matthias Ziegler

Veronica steigen die Tränen in die Augen, sobald sie von ihrer Flucht aus der unter russischem Beschuss liegenden Stadt Irpin bei Kiew berichtet. "Das Auto vor uns wurde von einer Rakete getroffen. Alle Menschen, die darin saßen, waren tot. Auf uns wurde auch geschossen. Aber irgendwie hatten wir Glück, wir haben es lebend rausgeschafft." Die 20-Jährige, die in einem SOS-Kinderdorf in Browary bei Kiew aufwuchs, schlug sich zusammen mit vier Freunden an die ukrainisch-polnische Grenze durch. Mittlerweile lebt sie im SOS-Kinderdorf Biłgoraj, rund 80 Kilometer westlich der ukrainisch-polnischen Grenze. Dort kümmert sich eine Psychologin um die schwer traumatisierte Studentin.

Die Kinderschutzorganisation hat seit Beginn des Krieges circa 155 Kinder, Pflegeeltern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Polen evakuiert. Doch in der Ukraine lebten vor Ausbruch des Krieges fast 100.000 Kinder in staatlichen Heimen. Die Dachorganisation "SOS-Kinderdörfer weltweit" will jetzt möglichst viele von ihnen in Polen in Sicherheit bringen.

Wenn Veronica von ihrer Flucht berichtet, lässt nicht nur die Erinnerung ihren Blick glasig und ihre Stimme zittrig werden: Auch ein Gefühl, das Kinderpsychologin Oksana Nasybullina "suvivor’s guilt" (Überlebensschuld) nennt, macht ihr schwer zu schaffen. Veronica beschleicht immer wieder das Gefühl der Schuld, weil sie überlebt hat, während andere sterben. "Gerade habe ich erfahren, dass meine Nachbarn, mit denen ich noch gestern telefoniert habe, heute bei einer Explosion getötet wurden", sagt Veronica und starrt ins Leere.

"Ich hoffe, sie leben noch"

Als Inna Karpinska Veronica in den Arm nimmt, bricht die Sozialarbeiterin selbst in Tränen aus. "Ich habe in Browary bei Kiew mit jungen Erwachsenen wie Veronica gearbeitet. Viele von ihnen sind noch dort. Einige von ihnen wollen freiwillig gegen die Russen kämpfen. Viele von ihnen kann ich nicht mehr erreichen. Ich hoffe, sie leben noch." Dann versagt Karpinskas Stimme.

Valentina Maksymenko weiß, dass alle ihre Kinder in Sicherheit sind, dennoch muss auch sie oft mit den Tränen kämpfen. Im großen Wohnzimmer des Hauses, das sie im SOS-Kinderdorf Biłgoraj seit einigen Tagen mit ihren neun Pflegekindern im Alter zwischen sechs und 16 Jahren bewohnt, übt sie gerade mit den Jüngsten lesen. "Sie haben hier in Polen noch keine Schule, aber es ist wichtig, dass ich ihnen jetzt möglichst viel Normalität und Routine vermittle", sagt die erfahrene Pädagogin.

Bis eine Woche vor Ausbruch des Krieges lebten sie alle in Browary bei Kiew. Weil die Kinderschutzorganisation die Warnungen des US-Geheimdienstes CIA ernst nahm, brachte SOS-Kinderdörfer weltweit den Großteil der betreuten Kinder bereits Mitte Februar in eine Reha-Klinik in Truskawez im vermeintlich sicheren Westen der Ukraine. Doch schon wenige Tage später gab es in der ganzen Ukraine keinen wirklich sicheren Ort mehr.

Warten in der Kälte der Nacht

Maksymenko floh deshalb mit ihren Kindern drei Tage nach Kriegsausbruch ins 90 Kilometer entfernte Polen. "Sechs Stunden haben wir in der Nacht an der Grenze gewartet. Die Kinder haben vor Kälte, Angst und Erschöpfung gezittert und geweint. Es waren so viele Menschen dort. Ein zweijähriges Kind ist bei einer Massenpanik zu Tode getrampelt worden", berichtet sie. Während Maksymenko von der dramatischen Flucht berichtet und sich immer wieder die Augen reiben muss, spielen ihre Pflegekinder am Esstisch friedlich Karten, andere malen. Immer wieder kommen sie zu ihrer Pflegemutter und zeigen ihr stolz, was sie für sie gemalt haben.

Maksymenko hat kein Problem damit, dass die Kinder dann sehen, dass ihre Augen gerötet sind. "Seitdem in unserem Land Krieg herrscht, haben die Kinder mich oft weinen sehen. Wir weinen auch oft zusammen", erzählt die Pflegemutter.

Die meisten Tränen flossen, als ihre 15-jährige Pflegetochter Juliana erfuhr, dass ihre beste Freundin und deren Eltern vermutlich von russischen Soldaten erschossen wurden, als sie bei Browary Freunde mit Essen und Trinken versorgen wollten. "Es sind so schreckliche, sinnlose Tode. Wie kann man nur auf harmlose Kinder schießen? Wir werden morgen in der Kirche gemeinsam für Julianas getötete Freundin und ihre Familie beten."

Weil sie den Anblick ihrer weinenden Mutter nur schwer ertragen können, haben Maksymenko jüngste Kinder beschlossen, einen Brief an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu schreiben: Sie wollen ihn darin bitten, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, damit ihre Mutter nicht mehr weinen muss, damit nicht noch mehr unschuldige Kinder sterben müssen und damit sie bald in ihre Heimat zurückkehren können.

Mit jedem weiteren Kriegstag gibt es weitere Tote und Verletzte und schwer traumatisierte Kinder. Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten, Panikattacken, Verschlossenheit, Apathie, Bindungsängste, Depressionen oder gar Suizidgedanken – der Krieg hat bereits viele dunkle Schatten auf die Kinderseelen geworfen.

Oksana Nasybullina, die bis zum Ausbruch des Krieges als Kinderpsychologin im SOS-Kinderdorf in Browary gearbeitet hat und nach fünf durchwachten Nächten im Luftschutzbunker unter Beschuss selbst mit ihrer vierjährigen Tochter ins SOS-Kinderdorf im ostpolnischen Biłgoraj geflohen ist, ist überzeugt, dass viele im Krieg psychisch erkrankte Kinder geheilt werden können. Mit Atemübungen gegen Panikattacken, Spiel-, Mal- und Gesprächstherapie versucht sie Traumata zu bekämpfen, bevor sie sich als Neurosen manifestieren.

Rasche psychologische Hilfe

Damit sie schnell in einem sicheren Umfeld psychotherapeutische Hilfe erhalten können, bemüht sich SOS-Kinderdörfer weltweit unterdessen zusammen mit ukrainischen Partnerorganisationen, möglichst viele Kinder möglichst schnell in Sicherheit zu bringen. Doch die Evakuierungen sind äußert riskant.

"Die vereinbarten Evakuierungskorridore sind nicht sicher. Die russische Armee missachtet fundamentale humanitäre Grundsätze und schießt sogar auf Helfer und fliehende Kinder, Mütter und Alte. Es ist eine entsetzliche Katastrophe", sagt Ela Janczur, SOS-Kinderdörfer-weltweit-Repräsentantin für die Ukraine, beim Besuch des polnisch-ukrainischen Grenzübergangs Hrebenne.

Die Missachtung ausgehandelter Waffenstillstände zur Evakuierung belagerter Städten führe dazu, dass Eltern vor die unmenschliche Wahl gestellt würden, teilweise ohne Nahrung, Wasser und Elektrizität mit ihren Kindern in Luftschutzkellern auszuharren oder sich mit ihren Töchtern und Söhnen auf die lebensgefährliche Flucht zu machen. "Es ist eine Entscheidung zwischen Todesgefahr und Todesgefahr", so Janczur.

Die 20-jährige Veronica hat sich für die lebensgefährliche Flucht aus ihrer Heimatstadt entschieden. Sie hat überlebt. Die Menschen im Auto direkt vor ihr nicht.

Unter den Millionen Menschen, die bisher aus der Ukraine fliehen mussten, sind viele Kinder – oft auch Waisen. (Philipp Hedemann aus Bilgoraj, 20.3.2022)