Michael Repass beriet ukrainische Truppen im Auftrag der USA.

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Ein zerstörter russischer Panzer. Das Zusammenspiel von Luft- und Bodenoffensive knirscht bei den Russen, sagt Repass.

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Der Angriffskrieg gegen die Ukraine verläuft keineswegs nach den Plänen der russischen Führung. Musste man anfangs davon ausgehen, dass die militärische Eroberung des Landes eine Frage von wenigen Tagen oder Wochen sein würde, scheint es jetzt nicht einmal gänzlich abwegig, dass die Verteidiger siegreich bleiben werden, analysiert der Ex-Militär Michael Repass, der nach seiner Pensionierung im Auftrag der USA die Streitkräfte der Ukraine beraten und trainiert hat.

STANDARD: Wann waren Sie das letzte Mal beim ukrainischen Militär?

Repass: Ende Jänner 2022 hatte ich mein letztes Engagement. 2021 war ich Berater des Generalstabs in Kiew.

STANDARD: Die ukrainische Armee leistet den Russen sehr starken Widerstand. Wie lange noch?

Repass: Ich bin nicht überrascht über die Leistung der ukrainischen Streitkräfte. Sie gewinnen jeden Tag relativ an Stärke gegenüber den Russen. Sie gingen zwar mit einer unterlegenen Armee in den Krieg, aber das Kräfteverhältnis gleicht sich immer mehr an. Sie kämpfen von einer moralisch überlegenen Position aus, da sie ihr Heimatland gegen eine brutale Aggression verteidigen. Die ukrainische Armee und das ukrainische Volk werden den Kampf fortsetzen, solange sie die Mittel haben. Ich sehe nicht, dass sie kurzfristig kapitulieren; besonders jetzt, da Russlands Offensive ins Stocken geraten ist. Die Dynamik könnte sich zugunsten der Ukraine bewegen.

STANDARD: Wie steht es um Putins Einheiten?

Repass: Die Russen werden jeden Tag schwächer. Vermutlich sind mehrere Tausend ihrer Soldaten bereits gefallen, darunter einige Generäle. Die Ukrainer haben bis 17. März 475 russische Panzer zerstört, Putin hatte zu Beginn in der Ukraine 1.200 Panzer im Einsatz. Dazu haben die Ukrainer russische Helikopter in der Luft und am Boden vernichtet sowie zahlreiches anderes Militärmaterial unschädlich gemacht. Für die Russen ist es schwer, die Verluste zu ersetzen, sie haben enorme Schwierigkeiten bei der Logistik und beim Nachschub. Das alles zehrt an der Moral der Truppe.

STANDARD: Hat die Ukraine also eine Chance?

Repass: Ja. Aber es ist unmöglich, den Ausgang des Konflikts genau vorauszusagen. Ich schätze die Verluste auf ukrainischer Seite auf ein Drittel der russischen Verluste.

STANDARD: Wie lautet das Erfolgsgeheimnis?

Repass: Die Militärs der Ukraine haben harte Arbeit geleistet und zeichnen sich durch enorme Willensstärke aus. Sie wussten, dass Putins Soldaten kommen würden – sie waren also nicht überrumpelt. Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt seit seinem Amtsantritt 2019 auf tiefe Reformen der Streitkräfte, er tauschte die Führung aus. Jetzt sind jüngere Generäle am Ruder, die seit 2014 gegen die Russen und die prorussischen Rebellen im Donbass gekämpft haben. Selenskyj ernannte auch einen neuen Verteidigungsminister, Olexij Resnikow, ein hervorragender Mann. Hinzu kommen moderne Ausbildung und Ausrüstung. Die aktuelle Armee der Ukraine gleicht den Streitkräften der Nato-Länder und hebt sich deutlich von der alten ukrainischen Truppe ab, die 2014 die Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim durch die Russen nicht verhindern konnte.

STANDARD: Wie wichtig sind die Waffenlieferungen aus den Nato-Staaten für die Ukraine?

Repass: Enorm wichtig. Die Frontkommandanten und ihre Einheiten brauchen dringend Panzer- und Flugabwehrsysteme. Mit der deutschen Panzerfaust 3, der Antipanzerrakete Javelin sowie den Flugabwehrraketen Stinger oder SA-7 können die Ukrainer den Russen empfindliche Verluste zufügen. Natürlich gestaltet sich der Waffentransport sehr gefährlich, weil die Russen die Lieferungen anvisieren.

STANDARD: Russland behauptet, es habe seine neuesten Kinschal-Hyperschallraketen zum ersten Mal in der Ukraine eingesetzt, um ein Waffenlager im Westen des Landes zu zerstören. Könnten diese Raketen ein Gamechanger zu Putins Gunsten sein?

Repass: Ich glaube nicht, dass die Waffe die Fähigkeit hat, den Verlauf des Konflikts zu ändern, weil sie einfach nicht genug davon haben.

STANDARD: Wieso kommen Putins Truppen so langsam voran?

Repass: Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Putin selbst haben ihrer sogenannten speziellen Militäroperation Annahmen zugrunde gelegt, die vor Beginn der Feindseligkeiten nicht verifiziert waren. Erstens gingen die Russen davon aus, dass die Ukrainer keinen ernstzunehmenden Widerstand leisten – das Gegenteil ist der Fall. Zweitens vertrauten die Russen darauf, dass sie mit einer großen motorisierten Streitmacht mühelos in der Ukraine operieren können – eine böse Überraschung für die Kreml-Truppen war das matschige Gelände im Norden der Ukraine. Kommt ein Fahrzeug von der Straße ab, bleibt es leicht stecken. Erinnern wir uns an den langen Konvoi vor Kiew: Es gab Pannen, Schäden und Spritmangel. Die intakten Vehikel kamen auch nicht mehr vorwärts. Wegen des Matsches.

STANDARD: Haben Russlands Nachrichtendienste also versagt?

Repass: Ja, sie waren nicht fähig, entscheidende Informationen zu sammeln. Es kann aber auch sein, dass die Dienste bewusst ein rosigeres Bild für Putin gezeichnet haben. Putin erhält gefilterte Informationen, die ihm genehm sind.

STANDARD: Welche strategischen Fehler machten die Russen?

Repass: Sie haben es zunächst versäumt, die Kommandozentrale und die Kommunikationskanäle der ukrainischen Armee auszuschalten. Das Zusammenspiel von Luft- und Bodenoffensive knirscht bei den Russen. Die Militärkampagne insgesamt ist zu komplex und zu verstreut. Sie haben nicht genügend Kampfkraft und Logistik für die Operation eingesetzt. Die US-Streitkräfte und ihre Koalitionspartner hingegen starteten im Golfkrieg 1991 gegen den Irak mit einer gewaltigen Luftoffensive, um die militärische Infrastruktur auszuschalten. Erst danach begann der Einmarsch in das irakisch besetzte Kuwait.

STANDARD: Welche Strategie verfolgen sie also?

Repass: Sie entfesseln eine enorm destruktive Kampagne, zerstören Städte, Infrastruktur, Energie- und Wasserversorgung, Abwassersysteme. Sie töten oder vertreiben die Zivilisten. Wenn die Städte unbewohnbar sind, bekämpfen sie das Militär. Wir sehen das in Mariupol. Die Russen wollen, dass kein ukrainischer Widerstand in der Ostukraine bleibt. So machten sie es schon in Syrien – in Aleppo und Homs – sowie in Tschetschenien, in Grosny.

STANDARD: Wie viel schlimmer kommt es noch?

Repass: Ich befürchte, es wird noch schlimmer. Wenn die Russen ihre Vernichtungsorgie fortsetzen, könnten nach UNHCR-Schätzungen 18 Millionen Menschen in die Flucht gezwungen werden. Oder mehr. Das wäre eine beispiellose humanitäre Katastrophe.

STANDARD: Wird Putin zum Äußersten gehen und Atomwaffen einsetzen?

Repass: Ich sehe keine Umstände, die ihn bewegen würden, mit Atomwaffen zu operieren. (Jan Dirk Herbermann, 20.3.2022)