Als zu Beginn dieses Jahres der Titel der Burgtheater-Diskussion festgelegt wurde, stand da noch ein Fragezeichen: "Wieder ein Krieg in Europa?" Mittlerweile ist es traurige Gewissheit, der umfangreichste Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wird seit 24. Februar auf ukrainischem Staatsgebiet ausgetragen.

Wieder Krieg in Europa: Leider als Feststellung – und nicht als Frage – im Wiener Burgtheater.
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"Ein Albtraum, der wahr geworden ist", beschreibt Moderator Ivan Vejvoda vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) die aktuelle Situation. Fragen gab es freilich trotzdem mehr als Antworten bei der Matinee im Rahmen der Burgtheater-Reihe "Debating Europe" – eine Kooperation des IWM, der Erste-Stiftung, des Burgtheaters und des STANDARD.

Serhii Plokhy: Es wäre nie zu der aktuellen Eskalation gekommen, hätte der Westen den Einmarsch Russlands in Georgien 2008 oder die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 ernster genommen.
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Über allem standen Schlüsselfragen wie "Hat man Putin fahrlässigerweise unterschätzt?", "Wie weit wird Putin gehen?" oder "Was kommt jetzt?". Auf Erstere hatte der ukrainische Historiker Serhii Plokhy sogar eine konkrete Antwort. Seiner Ansicht nach wäre es nie zu der aktuellen Eskalation gekommen, hätte der Westen den Einmarsch Russlands in Georgien 2008 oder die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 ernster genommen und ähnlich geschlossen und großflächig reagiert wie heute.

Moderator Ivan Vejvoda: "Ein Albtraum, der wahr geworden ist."
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Signale habe es zur Genüge gegeben: "Dieser Krieg hat schon viel früher begonnen, und er ist ein Weckruf für Europa." Diplomatie habe nicht gewirkt. Die russische Strategie, durch gezielte Desinformationskampagnen westliche Demokratien zu destabilisieren, habe hingegen Erfolg gehabt.

Abhängigkeiten minimieren

Dass wir derzeit Zeugen und Zeuginnen einer Zeitenwende sind, die die globale Ordnung verändert, darin waren sich alle auf dem Podium einig. Umso wichtiger sei es, dass die EU konkrete Konsequenzen für die Zukunft ziehe. Die in Frankreich tätige Journalistin Christine Ockrent betonte, eine Lektion müsse jedenfalls sein, dass Europa den Aufbau seines eigenen Verteidigungssystems endlich voranbringe.

Christine Ockrent: Europa muss den Aufbau seines eigenen Verteidigungssystems endlich voranbringen.
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Die Abhängigkeit vom russischen Gas und Erdöl sei dabei ein besonderes Dilemma. Europa unabhängiger zu machen, das werde Jahre dauern, müsse aber sofort angegangen werden. Wirtschaftlich werde der Ukraine-Krieg sich jedenfalls auf alle auswirken. Man müsse deshalb die Gesellschaften auf schmerzhafte Umwälzungen einstimmen.

Auch hätte die Herausforderung, die die historisch große Anzahl von Flüchtenden für Europa nun bedeute, durchaus das Potenzial, die europäischen Demokratien an ihre Grenzen zu bringen. "Es braucht dringend und schnell eine internationale Koordinierung", betonte der polnische Historiker Dariusz Stola. "Während wir hier diskutieren, sind wieder 6000 Menschen über die polnische Grenze geflohen."

Die umfassende Solidarität der Anrainerstaaten werde bald an natürliche Grenzen stoßen. Hier dürfe auch nicht auf das kleine Nachbarland Moldau vergessen werden. Der beste Weg sei aber, die russische Invasion so bald wie möglich zu stoppen. Der Westen, und das bezeichnete die Politologin Cathryn Clüver Ashbrook als Hoffnungsschimmer, würde sich auch auf der Ebene des im Cyberspace geführten Kriegs effektiv einbringen können.

Cathryn Clüver Ashbrook: Russische Invasion so bald wie möglich stoppen.
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Aktuell sei es, und da waren sich alle auf dem Podium einig, das allerdringlichste Ziel, dass die Kriegsparteien sich auf eine Verhandlungsbasis einigen. "Bis zu einer Verhandlungslösung ist es aber noch ein langer Weg", bleibt der ehemalige Botschafter Österreichs bei der Uno in New York, Thomas Mayr-Harting, realistisch.

Das Modell der österreichischen Neutralität, also eine militärische Bündnisfreiheit, die der Kreml ins Spiel brachte, müsse aber auch "Sicherheitsgarantieren für die Ukraine enthalten", betonte Mayr-Harting. Die seien mit dem russischen Vorschlag nicht gegeben.

Thomas Mayr-Harting: "Bis zu einer Verhandlungslösung ist es aber noch ein langer Weg."
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Trotzdem, so die Gäste im Burgtheater, wäre es nicht verfrüht, wenn die EU-Staaten sich schon jetzt konkrete Gedanken zur Wiederaufbauhilfe in der Ukraine machen würden. Eine EU-Beitrittsperspektive rein symbolischer Natur sei für die Ukraine jedenfalls nicht hilfreich.(Manuela Honsig-Erlenburg, 21.3.2022)

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