In der Serie "Alles gut?" denkt STANDARD-Redakteur Andreas Sator über eine bessere Welt nach – und darüber, welchen Beitrag er leisten kann. Melden Sie sich hier für seinen kostenlosen Newsletter an.

"Weil's immer schon so war" ist meistens keine befriedigende Erklärung. Manchmal trifft sie aber zu: etwa wenn es darum geht, warum das Rad in Dänemark und in den Niederlanden eine ganz andere Rolle spielt als in Österreich. Räder sind leise, verursachen keine Abgase – und man steht mit ihnen nicht im Stau: Im urbanen Raum sind sie eigentlich so etwas wie das ideale Fortbewegungsmittel. Trotzdem gibt es eklatante Unterschiede: In Amsterdam oder Kopenhagen wird viermal so viel Rad gefahren wie in Wien. Die Emissionen im Verkehr müssen in Österreich rapide sinken. Das Rad senkt sie sofort auf null. Schauen wir uns das deshalb genauer an.

Ein Parkplatz für Fahrräder im Westen Amsterdams.
Foto: AFP / SEBASTIEN BOZON

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Warum fahren in manchen Städten mehr und in anderen weniger Menschen Rad? Das ist keine Raketenwissenschaft. Die Forschung zeigt: Wer Straßen für Autos baut, erntet Autoverkehr, wer gute Radinfrastruktur baut, Radfahrer. Autostädte wie in den USA haben häufig de facto null Radverkehr, New York City kommt auf einen Anteil an den Wegen, die mit dem Rad zurückgelegt werden, von einem Prozent. Amsterdam kommt mit seiner fantastischen Infrastruktur auf 38 Prozent. Wien hat eine mittelmäßige und liegt bei neun Prozent. So weit, so einfach. Nur: Warum ist das so? Weil es eben immer schon so war.

Sándor Békési arbeitet im Wien-Museum. Bevor das Auto seinen Siegeszug antrat, war das Rad in vielen Städten Europas das Massenverkehrsmittel schlechthin, sagt er. Nicht aber in Wien, so Békési. Das von den Sozialdemokraten dominierte Wien habe kaum Geld in den Ausbau der Radinfrastruktur investiert. Die 1920er wirken bis heute nach. Das Rad wurde für die breite Masse leistbar. In den USA begann man, das Auto am Fließband herzustellen, die Kosten begannen stark zu sinken. Die Benutzung der Straße wurde neu verhandelt.

Entscheidende Jahre

Wer darf wann über die Straße? Lange begegneten sich Autos, Kutschen, Straßenbahnen, Fußgänger und Radfahrer gleichberechtigt, der Augenkontakt regelte den Verkehr. Mit dem Auto tauchte nun ein Verkehrsmittel auf, das die Straße für sich beanspruchte. Und ob in den 1920er-Jahren das Rad bereits breit etabliert war oder eben nicht, wirkt in Teilen bis heute nach. In den Niederlanden wurden im Jahr 1923 74 Prozent der Wege mit dem Rad erledigt. Für Wien gibt es keine Zahlen, sagt der Historiker Békési. Aber auf Fotos vom Alltag seien sie kaum präsent, nur auf dem Weg zum Praterstadion oder zum Baden an die Donau.

Warum wurde das Rad in Wien so wenig benutzt? Darüber lässt sich nur mutmaßen, sagt Békési. Klar ist, dass das Rad auch einmal ziemlich "in" war. Wohlhabende, Intellektuelle wie Theodor Herzl oder Arthur Schnitzler fuhren Rad, es war ein Statussymbol. Mit der Zeit wurde es in Wien aber für Bürgerliche "out", es wurde mehr im Berufsverkehr verwendet, etwa von Postlern und zunehmend auch von Arbeitern. Die Sozialdemokratie schrieb sich den öffentlichen Verkehr auf die Fahnen. Das prägt Wien bis heute, die Stadt hat ein hervorragend ausgebautes Netz an U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen. Bis in die 1950er-Jahre wurden aber noch viele, kilometerlange Wege zu Fuß zurückgelegt, sagt Békési. Dann begann der Siegeszug des Autos.

Umbau der Stadt

Anfang der 1950er wurde in Wien der Gürtel, eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, zu einer modernen Betonstraße für das Auto gebaut, sagt Békési. Zwischen Westbahnhof und Urban-Loritz-Platz gab es zu der Zeit einen Zweirichtungsradweg, den man für die Autostraße sogar noch abriss. In den 1970ern erreichten die Radwege mit einer Gesamtlänge von mickrigen elf Kilometern einen Tiefpunkt, sagt Békési. "Wer Rad fuhr, galt damals entweder als verarmt oder als Ökofuzzi."

Das ist heute anders. Der Radverkehr nimmt in vielen Teilen der Welt seit geraumer Zeit wieder stark zu. Auch in Wien stieg der Anteil der Wege, die mit dem Rad zurückgelegt werden, zuletzt auf neun Prozent. Das mag aber auch an Corona liegen: Wie viele davon nach der Pandemie wieder vom Rad ab- und in die Öffis einstiegen, ist unklar. 2019 lag der Anteil jedenfalls bei sieben Prozent. Der Anstieg erfolgte aber extrem langsam, 2009 waren es noch 5,5 Prozent. In Amsterdam sind es 32 Prozent, in Kopenhagen 35 Prozent.

Fundament war schon da

Die ersten paar Prozentpunkte sind die schwierigsten, sagt Historikerin Anne Ebert. Wer neidisch auf Radstädte wie Amsterdam oder Kopenhagen blickt, muss fairerweise also auch die gänzlich andere Geschichte der beiden Länder berücksichtigen. Denn dort muss das Fundament nicht neu gelegt werden, es war schon da. Auch dort war Radfahren um die Jahrhundertwende ein Phänomen der Oberschicht. So wie in Wien Arthur Schnitzler stolz Rad fuhr, taten das auch Geschäftsleute, Studierende, Intellektuelle in den Niederlanden und in Dänemark. Anders als in Österreich hörten sie aber nicht damit auf. Woran lag das?

Laut der Historikerin Anne Ebert ist ein Grund dafür, dass sich beide Länder während des Ersten Weltkriegs neutral verhielten. "Man sagt, die Menschen sind mit Pferden in den Weltkrieg hineingeritten und mit Panzern herausgekommen. Das Rad ist nicht das Mittel der Wahl durch Schlamm und Gräben. Die Aufrüstung in der Zeit war unglaublich, motorisierte Technik und Panzer wurden entwickelt und setzen sich durch."

Der Erste Weltkrieg

Während sich andere Länder also hochrüsteten, setzte man in Dänemark und den Niederlanden als Abgrenzung zu den aggressiven Nachbarn wie Deutschland auf das nationale Symbol Fahrrad. Es sollte Ausdruck des Ausgeglichenen und Friedliebenden der beiden Länder sein, sagt Ebert. In der Zeit, in der also überall neu darüber verhandelt wurde, für wen die Straße war, war das Rad in diesen beiden Ländern bereits ein breit etabliertes Verkehrsmittel. Die Radfahrer saßen mit am Tisch.

Dazu trug eine niederländische Eigenheit bei: Räder wurden besteuert. Das war zwar umstritten, sorgte aber dafür, dass die Radfahrer selbst für die Neugestaltung der Straßen zahlten. Das verschaffte ihnen politisch eine Stimme. Sie organisierten sich in Vereinen, und auch in den Planungsbüros saßen Menschen, die selbst Rad fuhren. In Deutschland war das anders, sagt Ebert. Hier hieß es: Wenn die Radfahrer schon die Straße nutzen, dann gefälligst am Rand. "Damit die vorbeikommen, für die die Straße eigentlich gedacht ist."

Zu dieser Stimmung trug bei, dass die Oberschicht wie in Österreich nicht mehr Rad fuhr, es war nicht mehr schick. In Deutschland gebe es aus dieser Zeit sogar Beispiele dafür, dass die Straßen extra so gebaut wurden, dass die Arbeiter auf dem Weg in die Fabrik nicht mit dem Rad fahren konnten, sagt Ebert. "Es ging darum, dass die Straße für den motorisierten Verkehr ist. Das ist bis heute die überwiegende Denke im europäischen Raum."

Foto: Borderstep Institute

Als das Auto dann nach dem Zweiten Weltkrieg überall zum Maß aller Dinge wurde, war in Dänemark und den Niederlanden das Rad schon etabliert. Auch dort fuhren immer weniger Rad, aber man hörte nicht auf damit. Anders als in Wien musste die bestehende Infrastruktur nicht für das Auto weichen. Das Rad war als Verkehrsmittel etabliert. In Kopenhagen wurde wie in Wien in den 1970ern ein Tiefpunkt des Radverkehrs erreicht. Aber: Damals wurde das Rad noch immer fast dreimal so häufig benutzt als in Wien 2021!

Dass das Rad aber schon einmal etabliert war, hilft nicht immer. In Stockholm lag der Anteil des Radverkehrs während des Zweiten Weltkriegs bei 70 Prozent. Weil die ganze Stadt für das Auto umgebaut wurde, sank dieser Anteil bis 1970 auf ein Prozent. Auch in Kopenhagen gab es in den 1970er-Jahren Pläne, die Stadt autogerecht umzubauen. Die Stadt war aber kurz vor dem Bankrott und hatte dann nicht die Mittel dafür. Geschichte ist eben auch Zufall.

Wendepunkt 1970er-Jahre

Trotzdem wurde die Radinfrastruktur in Kopenhagen in dieser Zeit nicht ausgebaut, anders als die Vorstädte und Schnellstraßen für das Auto. Die Entfernung von Wohnort und Arbeitsplatz stieg stark an – und mit ihr der Autobesitz. Die 1970er-Jahre waren aber ein Wendepunkt. Wie auch heute stiegen damals die Energiepreise massiv an. Es gab autofreie Tage, auch in Österreich. Gleichzeitig war es eine Zeit, in der das Umweltbewusstsein der Bevölkerung stieg, die Luft in den Städten war schmutzig, und es ging der Platz aus, die Lebensqualität litt, Unfälle häuften sich. Das Rad gewann wieder an Popularität.

Spätestens in den 1990er-Jahren begann in Kopenhagen der massive Ausbau der Infrastruktur für das Rad. Alle zwei Jahre gab es eine Erhebung über die Lage und neue Ausbauziele. 2005 wurde der erste Wahlkampf mit Fokus auf das Rad ausgetragen, Oberbürgermeister wurde jener Kandidat, der sich am stärksten für das Fahrrad einsetzte. 2007 gibt die Stadt das Ziel aus, zur fahrradfreundlichsten Stadt der Welt zu werden.

Die Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 und die damit einhergehende Aufmerksamkeit für Umweltthemen wurde politisch genutzt. Zig kilometerlange Rad-Highways wurden gebaut, die Ampelschaltung am Radverkehr ausgerichtet.

Radfahrer am Rennweg in Wien, daneben zwei Autospuren: Tempo 50.
Foto: Google Maps

Der Nachhaltigkeitsforscher Stefan Gössling hat die Kampagnen für das Fahrrad in Kopenhagen analysiert und festgestellt, dass es dabei nie um Moral ging – also etwa: Radfahren ist gut für die Umwelt – und auch nicht um eine Anti-Auto-Rhetorik. Die Menschen wollen auf dem Weg in die Arbeit nicht die Welt retten, und auch in den Niederlanden und in Dänemark steigt der Autobesitz an. Wer ein Auto haben möchte, soll es haben, aber wenn die Infrastruktur in der Stadt attraktiv ist, wird es weniger gefahren.

Das ist übrigens auch in Kopenhagen der Fall. Zwischen 2005 und 2015 stieg die Bevölkerung um 15 Prozent, der Autobesitz sogar um 21 Prozent, aber der Autoverkehr sank um drei Prozent. Weil Wien so gut ausgebaute Öffis hat, liegt der Autoanteil in Wien mit 26 Prozent acht Prozentpunkte niedriger als in Kopenhagen. Die rot-pinke Stadtregierung hat sich zum Ziel gesetzt, den Autoanteil auf 15 Prozent zu senken. Das würde die Emissionen um 45 Prozent reduzieren, so die Stadt. Der öffentliche Raum würde stark aufgewertet werden. Niemand sitzt gerne neben der Fahrspur im Kaffeehaus.

Unsicherer Radweg am Matzleinsdorfer Platz in Wien.
Foto: Google Maps

Die Geschichte macht es dem Rad in Wien aber schwierig. Es gibt wenig Infrastruktur, auf der man aufbauen könnte, jeder Radweg muss mühsam erkämpft werden. Räder gelten auf der Straße immer noch als Störfaktor. Und die Forschung zeigt: Je weniger Radfahrer auf der Straße sind, desto gefährlicher ist es. Die Radstädte sind auch die mit den wenigsten Unfällen. Wenn viele Räder unterwegs sind, passen Autofahrer automatisch ihr Verhalten an – sie rechnen damit, dass sie nicht allein auf der Straße sind.

Die Stadt Wien hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt, für Fachleute spiegeln sich diese aber noch nicht in der konkreten Politik wider. Der Ausbau des Radnetzes geht zu langsam voran. Dabei ist klar: Wer mehr Radfahrer möchte, muss die Bedingungen für das Rad verbessern. Baulich getrennte Radwege neben Hauptstraßen, damit sich Radfahrer sicher fühlen, und im Rest der Stadt eine Verkehrsberuhigung und vielerorts Tempo 30, das könne man von den Vorbildern lernen, so der Forscher John Pucher.

Im nächsten Beitrag der Serie geht es darum, wie die Mobilitätswende auf dem Land gelingen kann. Melden Sie sich für den kostenlosen Newsletter an, um ihn nicht zu verpassen. (Andreas Sator, 4.4.2022)