Zum vieldiskutierten Thema "Cultural Appropriation" wirft der Historiker Cem Kara einen Blick auf die alevitische Religion und darauf, was sich andere davon angeeignet haben.

Der aktuelle gesellschaftliche Diskurs wird zunehmend von politisch aufgeladenen sowie polarisierenden Schlagworten und Begriffen geprägt. Eine kontinuierlich wachsende Aufmerksamkeit erfährt dabei der Begriff der kulturellen Aneignung. Vereinfacht gesagt, werden darunter Phänomene verstanden, bei denen sich eine privilegierte Gruppe kulturelle Errungenschaften einer diskriminierten Minderheit zu eigen macht.

Während sich die Debatte zunächst an sichtbaren Aneignungen wie Körperschmuck, Kleidungsstilen oder Frisuren entzündet hatte, ist der Begriff sukzessive auf Bereiche wie Musik oder das religiöse Feld ausgeweitet worden. So wird etwa im Format "13 Fragen" des ZDF die Frage aufgeworfen, ob Rap-Musik von Weißen als kulturelle Aneignung zu verstehen ist.

Im religiösen Feld werden die Debatten insbesondere hinsichtlich der westlichen Rezeption des Buddhismus geführt – begonnen bei der Nutzung von Gebetsflaggen über Yoga bis hin zu Mantra-Gesängen. Häufig scheinen hierbei die Fronten verhärtet: Während die eine Seite in allen Formen der Rezeption von Minderheitenkultur durch Mehrheiten Aneignungen sehen möchte, werden von der anderen besagte Rezeptionen lediglich als Würdigung und Respektbekundung gedeutet.

Aneignung eines Instruments?

Mit Blick auf die religiöse Minderheit der Aleviten finden sich ebenfalls Phänomene, die mit den eben erwähnten Diskussionsthemen durchaus verglichen werden können. Hier kann auf die Arte-Doku "Saz" verwiesen werden: In dieser Doku wird die Geschichte einer polnisch-stämmigen Wiener Musikerin erzählt, die das Saiteninstrument Saz spielt, das bei religiösen Kulturen vom Balkan bis Zentralasien – unter anderem beim Alevitentum – eine zentrale Rolle in der Sakralmusik und Ritualpraxis einnimmt. So begibt sich die Musikerin, von ihrem Wohnort Berlin aufbrechend, auf eine Spurensuche des Instruments, die sie von Bosnien über die Türkei bis in den Iran führt.

Nun könnte man einwenden, dass die Geschichte des Instruments erst dann erzählenswert wurde, nachdem eine Westeuropäerin das Instrument für sich entdeckt hatte, und zugleich den Vorwurf erheben, dass sie sich kulturell ein Instrument aneignete, das für Aleviten und viele weitere religiöse Minderheiten eine sakrale Bedeutung hat. Wäre auch dies als eine Form kultureller Aneignung zu verstehen?

Das Saz, ein typisch alevitisches Instrument.
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Religiöse Verbindungen gekappt

In Geschichte und Gegenwart des Alevitentums lassen sich viele kulturelle Aneignungen rekonstruieren – sowohl von der Mehrheitsgesellschaft in der Türkei als auch von westlichen Gruppen. Auf einer diskursiven Ebene wollten türkische Nationalisten und westliche Orientalisten im Alevitentum sowie im Bektaschitum, dem vor allem auf dem Balkan verbreiteten und mit dem Alevitentum religiös-kulturell eng verwobenen Sufi-Orden, eine Version der eigenen kulturellen Prägung sehen. Für türkische Nationalisten waren Alevitentum und Bektaschitum zusammengedacht in ihrem Kern eine türkische Religion; für westliche Orientalisten hingegen eine Kryptoversion des Christentums. So sollte aus dem Alevitentum jeweils ein verlängerter Arm der eigenen Kultur werden.

Auch im Bereich der Musik finden sich viele Prozesse kultureller Aneignung. In der Türkei bedienen sich seit Jahrzehnten türkisch-nationalistische Musikerinnen und Musiker an Melodien, Motiven und Kompositionen alevitischer Sakralmusik und komponieren die Musik in einem türkisch-nationalistischen Kontext um. Zugleich gibt es Beispiele für weniger politisch gefärbte, dafür umso stärker kommerziell motivierte Aneignungen, bei der alevitische Poesie und Musik ohne Verweis auf das Original in der Popkultur neu interpretiert werden.

Dabei werden die Lieder nicht nur ihrer religiös-kulturellen Komponente beraubt, sondern häufig jegliche Verbindung zum Alevitentum gekappt. Bei vielen Musikerinnen und Musikern, die die alevitische Musik nachhaltig prägten, wird die religiös-kulturelle Zugehörigkeit unterschlagen. So zelebrieren diskursbestimmende Medien den Dichter und Musiker Âşık Veysel (1894–1973) als großen Künstler und Repräsentanten türkischer Kultur, ohne dessen alevitischen Glauben, der nachweislich seine Kunst prägte, auch nur einmal zu erwähnen. Bei kurdischsprachiger Musik wurden zuweilen kurdische Lieder einfach ins Türkische übersetzt, sodass unverblümt der Eindruck vermittelt wurde, es handle sich bei besagten Liedern um Produkte türkischsprachiger Kultur.

Stereotype Orientalisierung

Auch im Westen finden sich, wenngleich vereinzelter, kommerziell motivierte Aneignungen von Musik, die der alevitischen Musik zugeordnet werden können. Der erfolgreiche Musikproduzent Timbaland sampelte – ebenfalls ohne Angabe der Quelle – eine Komposition des alevitischen Dichter-Musikers Muhlis Akarsu (1948–1993) für ein Lied von Nelly Furtado. Dass besagtes Lied dezidiert ritualpraktisch kodiert ist und Muhlis Akarsu Opfer eines alevitenfeindlichen Pogroms wurde, machte diese Aneignung für Aleviten nochmals brisanter.1

Ferner gibt es jenseits des Musikfeldes in den USA bis zum heutigen Tag mit den sogenannten Mystic Shriners eine Freimaurer-nahe Gruppe, die sich bei ihrer Gründung im späten 19. Jahrhundert als Fortsetzung der Bektaschis inszenierte. Sie betrachteten sich als "Americanized version" der Bektaschis, ohne dass die Bektaschis in Anatolien und auf dem Balkan auch nur ahnen konnten, dass jenseits des Atlantiks eine Gruppe in ihrem Namen Hunderte von Zentren gegründet und hunderttausende Mitglieder gewonnen hatte. In New Hampshire hat die Gruppe bis heute ein Zentrum mit dem vielsagenden Namen Bektash Temple, in dem die Fez-tragenden Mitglieder an Weihnachten Bektash Christmas feiern und auf ihren Bektash-"Fez"tivals der Bektash Music Choir auftritt. Die offenkundig stereotype Orientalisierung könnte mit dem Fez und den exotisierenden Wortspielen kaum augenscheinlicher sein.

Bei all diesen Beispielen handelt es sich unzweifelhaft um kulturelle Aneignungen, bei denen sich die diskursiv mächtigere Kultur bei der schwächeren wie in einem Supermarkt frei bedient und es nicht für notwendig befindet, auf die Inspirationsquelle zu verweisen und zugleich die rezipierte Kultur auf exotisierende Elemente reduziert. Es wird entweder so getan, als ob die kulturellen Erzeugnisse der eigenen Kultur oder einem Karl-May-Roman entsprungen seien.

Wo liegt die Grenze?

Gleichzeitig stellt sich aber die Frage, wo die Grenze liegt zwischen diesen eindeutigen kulturellen Aneignungen, die es in Geschichte und Gegenwart des Alevitentums zuhauf gegeben hat, und anderen, unverfänglicheren Prozessen kulturellen Austauschs. Denn Kultur entsteht erst durch Austausch. Der Kulturwissenschafter Lutz Musner spricht daher von der Kultur als Transfer, da sich erst durch Austauschprozesse Kulturen weiterentwickeln oder gar erst entstehen.

In einer idealen Welt begegnen sich Kulturen in solchen Prozessen auf Augenhöhe, ohne Macht-Hierarchien. Aber die Realität disqualifiziert dies leider sehr schnell als Utopie, weswegen in vielen kulturellen Austauschprozessen ein Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen kaum vermeidbar ist. Wenn dieses Ungleichgewicht sodann aber einen reziproken Transfer ausschlösse, wären kulturelle Austauschprozesse kaum oder nur sehr eingeschränkt möglich, was – etwas pathetisch gesprochen – unsere kulturelle Welt um einiges ärmer machen würde.

Intention, Interesse, Transparenz

Die entscheidenden Unterscheidungsmarker, die in diesen Diskussionen häufig zu kurz kommen, sind Intention, Interesse und Transparenz. Wird gezeigt, woher das kulturelle Produkt stammt, oder wird die Inspirationsquelle verschwiegen? Liegt ferner ein aufrichtiges Interesse vor, das kulturelle Erzeugnis ganzheitlich im Kontext seiner Entstehung zu verstehen, oder findet nur eine nachahmende Reproduktion von Begriffen und Symbolen statt, die die rezipierte Kultur auf plakative und stereotype Elemente reduziert?

Der Grad an Transparenz und die Art des Interesses legen sodann auch eine Intention nahe – ob sie lediglich kommerzieller oder politischer Natur ist, oder ob tatsächlich Neugierde und der Wunsch einer Horizonterweiterung der Rezeption zugrunde liegen. Das Argument, dass die Aneignung die kulturellen Erzeugnisse ihrem Kontext entreißen würde, ist hingegen grundsätzlich problematisch: Denn die Rekontextualisierung des Rezipierten gehört schlichtweg zum Kulturtransfer. Im Prozess eines Kulturaustauschs werden stets Elemente einer Kultur aus ihrem Entstehungskontext dekontextualisiert und in der rezipierenden Kultur rekontextualisiert. Schließlich sind auch die Phänomene, die per kultureller Aneignung vereinnahmt werden, gleichfalls durch diese Prozesse der De- und Rekontextualisierung entstanden.

Reaktion der Kulturangehörigen

In der Vergangenheit geschahen diese Prozesse zumeist sehr unreflektiert, weswegen die aktuelle Debatte auch ein sehr großes Potential für einen reflektierten Kulturaustausch aufweist. Zwar ist die Rezeption kultureller Erzeugnisse diskriminierter Gruppen bei fehlender eigener Diskriminierungserfahrung meines Erachtens nicht von vornherein abzulehnen, aber ein Verschweigen oder Ausblenden dieses Umstandes ist zweifellos sehr problematisch. Ein Bewusstsein dafür, dass die rezipierten Kulturerzeugnisse in einem Diskriminierungskontext entstanden sind, ist daher unabdingbar.

Mit diesen Überlegungen auf die "Saz"-Doku von Arte und die Wiener Saz-Spielerin zurückkommend: Die Künstlerin zeigt besagte Sensibilität und ein aufrichtiges Interesse, das Instrument im Kontext seiner kulturellen Vielfalt ganzheitlich zu verstehen – die gesamte Doku ist ja schließlich eine kulturelle Spurensuche. Exotisierungen zeichnen sich zwar hier und da ab, aber sie erreichen nie eine peinliche Überspitzung. Aber mir scheint ein weiterer Aspekt dafür ausschlaggebend zu sein, dass man hier keine problematische Form kultureller Aneignung vorfindet: nämlich die Reaktion der Angehörigen der rezipierten Kultur.

Selten wurde mir im Familien- und Freundeskreis so oft eine Dokumentation empfohlen und weitergeleitet. In der Reaktion vieler Aleviten auf die Doku schwingt schon beinahe so etwas wie Stolz mit, dass eine "Fremde" ein solches Interesse an den eigenen Kulturerzeugnissen zeigt – auch und vor allem vor dem Hintergrund, dass man als unterdrückte Kultur im besten Fall ignoriert, häufig vielmehr aktiv diskriminiert oder der eigenen Kulturerzeugnisse durch Vereinnahmung beraubt wurde. Umso größer scheint dann die Anerkennung zu sein, wenn die Adaption einem aufrichtigen und reflektierten Interesse entspringt. Bezeichnend hierfür ist eine Szene in der Doku, in der die Wiener Protagonistin einen türkischen Musiker fragt, ob die musikalische Tradition der Saz in einer anderen Kultur fortgeführt werden könne. Seine deutliche Antwort: "Natürlich, natürlich!" (Cem Kara, 23.3.2022)