Je länger der Ukraine-Krieg dauert, umso stärker gewinnt man den Eindruck, dass das Schlimmste noch bevorstehen könnte.

Die überraschenden und zu Recht bewunderten Erfolge der ukrainischen Streitkräfte und der Zivilgesellschaft lösen wütende Reaktionen und mit Lügen garnierte düstere Drohungen des Kremls aus. Rüstungsexperten und Kriegshistoriker warnen, dass Wladimir Putin im Eck keine "roten Linien" hinsichtlich des Völkerrechts und des Schutzes der Zivilbevölkerung respektieren wird. Da er mit "Konsequenzen noch nie dagewesenen Ausmaßes" gedroht hatte, debattieren die Experten schon darüber, ob der Einsatz von taktischen Atomwaffen gänzlich ausgeschlossen werden kann.

Für Wladimir Putin geht es um das Überleben als politischer Führer.
Foto: APA/AFP/VLADIMIR ZIVOJINOVIC

Nach seinen enormen Fehlkalkulationen kann Putin sich nicht nur eine Niederlage, sondern möglicherweise auch eine längere Pattsituation nicht leisten. Für ihn geht es um das Überleben als politischer Führer. Deshalb warnen Historiker, wie Richard Ned Lebow vom King’s College in London, dass der Krieg aus dem Ruder laufen könnte. Oder kritisieren, wie der angesehene Autor Niall Ferguson, die "naive Selbstgefälligkeit des Westens". Es besteht kein Zweifel, dass die Europäische Union und die USA zu spät reagierten und bei der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung zu wenig für die Ukraine getan haben.

Heute wissen wir auch, dass die Sanktionen selbst bezüglich Rüstungsexporten für Russland nicht von allen Staaten respektiert wurden. So sollen zwischen 2014 und 2020 Rüstungsgüter im Wert von 350 Millionen Euro vor allem von Frankreich und Deutschland nach Russland geliefert worden sein; auch von Österreich im Wert von 18 Millionen Euro.

Großrussischer Nationalismus

Die Abhängigkeit vom russischen Gas sollte, von der EU-Kommission koordiniert, zügig und kontrolliert reduziert werden. Aus der Geschichte wissen wir, dass den Diktatoren nur das gesagt wird, was sie hören wollen. Stalin war bis zuletzt überzeugt, dass sich Adolf Hitler an den Pakt halten wird.

Wie der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin meint, für Putin sei sein ganzes Leben eine "Spezialoperation", wie eben der Ukraine-Krieg offiziell genannt wird. Die emotionale Rhetorik gegen den Westen, vermischt mit immer schärferen Drohungen gegen die kritische Zivilbevölkerung, bildet die Grundlage seiner Mobilisierungstaktik.

Der zügellose großrussische Nationalismus des Diktators mit dem Rücken zur Wand versetzt infolge der westlichen Sanktionen Russland wieder in den Status einer "Obervolta mit Raketen" (Helmut Schmidt 1977), gefährdet nicht nur die Existenz der Ukraine, sondern die europäische Zivilisation.

Das heißt: Wir werden nicht absehen können, was kommt. Deshalb sind alle Mittel zur Abwehr der grenzüberschreitenden Aggression Russlands legitim. Von massiver Rüstungshilfe für die Ukraine bis zur radikalen Kürzung des Kaufs von russischem Gas und Öl, buchstäblich alles, außer der Errichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine, die einen Krieg zwischen den Atommächten bedeuten würde. "Ist das zu viel verlangt?", fragt Präsident Wolodymyr Selenskyj und fragen viele bewundernswerte ukrainische Künstler und Intellektuelle den Westen. "Leider ja", muss die ehrliche Antwort lauten. (Paul Lendvai, 22.3.2022)