Unternehmen sind meist stark hierarchisch geprägt und das störe bei der Arbeit mehr als es nütze, sagt Elisabeth Sechser. Wie Führung ohne Vorgesetzte funktioniert und welche Rolle Firmen in der Demokratiebildung einnehmen.

STANDARD: Sie stellen das Konstrukt "Führungskraft" infrage. Warum?

Sechser: In unserer Arbeitswelt hat sich etabliert, die Begriffe Führungskraft und Führung synonym zu verwenden. Die Tätigkeit ist also immer an eine Person oder eine Position gebunden. Ein Blick in gängige Stelleninserate zeigt, dass es in dieser Rolle um das Treffen von Entscheidungen für ein Team und das Tragen von Verantwortung für einen Bereich geht. Auch sprachlich ist Führung eng mit Hierarchie verbunden, wenn zum Beispiel die Karriereleiter erklommen wird oder Entwicklungsmöglichkeiten in einer Führungsrolle münden. Es geht also immer darum, dass eine Person andere "unter sich hat". Dabei ist Führung etwas, das zwischen Menschen stattfindet.

Es gebe noch viel ungenutztes Potenzial in Firmen, sagt Organisationsexpertin Elisabeth Sechser.
Foto: Jana Mack

STANDARD: Woher kommt diese Verknüpfung zwischen Tätigkeit und Person?

Sechser: In fast allen Bereichen von Organisationen finden wir hierarchische Strukturen vor. Grundsätzlich ist Hierarchie auch wichtig, wenn es darum geht, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen und Richtlinien einzuhalten. Die Geschäftsführung, Betriebsräte und Datenschutzbeauftragte sind gute Beispiele dafür. Das ist aber nicht die Struktur, die es für die Wertschöpfung braucht. Denn Produkte und Services entstehen in Teams, die zusammenarbeiten. Bei dieser eigentlichen Arbeit stört Hierarchie.

STANDARD: Inwiefern wird die Arbeit dadurch gestört?

Sechser: In erster Linie werden Prozesse verlangsamt, wenn man sich immer erst abstimmen und alles von Vorgesetzten autorisiert werden muss. Vieles läuft also über Führungskräfte und nur im dafür vorgegebenen Rahmen, obwohl Kundenanliegen oder Probleme zeitnah gelöst werden müssten. In einer Beziehung wartet man doch auch nicht auf das Jahresgespräch mit der Partnerin oder dem Partner, um etwas Wichtiges zu besprechen. Stattdessen sollten Organisationen eine Umgebung schaffen, in der Teams Verantwortung tragen und autonom agieren können. Das heißt: Nicht Führungskräfte sollen Menschen führen, sondern Teams das Business.

STANDARD: Warum halten sich diese Strukturen dann?

Sechser: Das liegt auch an vordemokratischen und patriarchalen Denkmustern, die dieser Wahrnehmung zugrunde liegen. Viele Unternehmen glauben nach wie vor, dass sie Vorgesetzte brauchen, die Beschäftigte kontrollieren und bewerten. Dabei sind Mitarbeitende erwachsene Menschen, die außerhalb der Arbeit ihr Leben ganz ohne Führungskraft meistern. Durch diese Bevormundung gehen auch viele Ressourcen verloren – und es entstehen Unzufriedenheit und Frustration. Wenn in einer Jobanzeige steht, dass Eigeninitiative und selbstständiges Arbeiten gefordert sind und am Ende entscheidet dann doch die Chefin oder der Chef. Das ist ein Widerspruch in sich.

STANDARD: Welche Rolle spielen Firmen bei der Demokratiebildung?

Sechser: Unternehmen sind natürlich auch Orte, die für die Gesellschaft und Demokratie relevant sind. Das Verständnis von Demokratie wird aber bestimmt nicht dadurch gestärkt, dass Beschäftigte jeden Tag in streng hierarchischen Organisationen verbringen, Zielvorgaben erfüllen müssen und Einzelleistungen von Vorgesetzten bewertet werden. Menschen sind fähig, Verantwortung zu übernehmen, und wollen gemeinsam wirken. Wäre diese Denkweise in allen Unternehmen etabliert, dann würde man Bedingungen schaffen, um die Beschäftigten dabei zu unterstützen.

STANDARD: Funktioniert das in jedem Job?

Sechser: Ja. Es gibt viel ungenutztes Potenzial in Firmen – und eine Umstellung wird auf lange Sicht in vielen Betrieben notwendig sein. Hierarchische Systeme führen nämlich zu einer Vereinzelung, wenn Individuen beurteilt und dann belohnt oder gar bestraft werden. Dabei ist in unserer modernen und komplexen Arbeitswelt gleichrangige Zusammenarbeit die Grundvoraussetzung für Erfolg. Außerdem sind Führungspositionen ohnehin begrenzt – und nur wenige "schaffen es nach oben". Es geht aber nicht darum, Vorgesetzte als Personen abzubauen, sondern das Konstrukt "Führungskraft" infrage zu stellen. Diese Expertinnen und Experten ihres Fachs wollen ihre Fähigkeiten oft selbst anders einsetzen.

STANDARD: Wie könnte das in der Praxis aussehen?

Sechser: Was es meiner Meinung nach nicht braucht, sind externe Berater oder Anleitungen mit genauen Vorgaben. Das sind meist Ansätze, die für Firmen in der Praxis schlecht funktionieren und womöglich das Gegenteil bewirken. Der erste Schritt ist, existierende Organisationsmuster zu hinterfragen und gemeinsam zu diskutieren. Welche Alternativen gibt es? Haben wir Instrumente, die die Teamarbeit stören, zum Beispiel Mitarbeitergespräche und Performance-Evaluierungen, und können wir die einfach mal weglassen? So kann Veränderung sogar von heute auf morgen stattfinden. (Anika Dang, 1.4.2022)