Zu etwa 60 Prozent ist die Genetik für die Erkrankung verantwortlich, aber es ist auch ein psychisches Problem.

Bananenbrot backen, Sauerteig ansetzen und häufiger kochen: In der Pandemie hat sich der Stellenwert von Essen verändert, aber nicht für alle ins Positive. Die Zahl der Magersüchtigen sei durch Corona deutlich gestiegen, liest man.

Andreas Karwautz ärgert diese vereinfachte Darstellung. Er ist Universitätsprofessor und Leiter der Ambulanz für Essstörungen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Med-Uni Wien. Man müsse differenzieren: "Ja, die Zahl der Menschen, die wegen Essstörungen Hilfe suchen, ist gestiegen. Sie ist so hoch, dass wir nicht mehr wissen, wohin mit ihnen." Ob die Betroffenen die Essstörung aufgrund von Corona entwickelt haben, kann man aber nicht sagen.

Die Patientinnen und Patienten, die jetzt Hilfe suchen, seien womöglich schon vor der Pandemie betroffen gewesen, glaubt er und bezieht sich auf die Studie "Mental Health in Austrian Teenagers", die er 2013 geleitet hat. Das Ergebnis damals: 75 Prozent aller von Essstörungen Betroffenen gehen nie zum Arzt, zur Psychotherapeutin oder zum Psychologen: "Die sitzen das zu Hause aus." Während Corona sei das vielen nicht mehr gelungen, soll heißen: Corona hat womöglich die Dunkelziffer sichtbarer gemacht.

Multifaktorielle Krankheit

Es gibt immer mehrere Ursachen für das Krankheitsbild Anorexie, sagt Karwautz. Magersucht ist eine stark biologische Erkrankung, zu etwa 60 Prozent sei die Genetik verantwortlich. Aber es ist auch ein psychisches Problem. In internationalen Leitlinien ist die Psychotherapie die empfohlene Behandlung für erwachsene Magersuchtkranke.

Die psychische Belastung war in den letzten zwei Jahren besonders hoch: "Der seelische Haushalt ist überlastet. Betroffene wissen nicht, wie man damit umgeht." Etwas, das bei nahezu allen Magersuchtkranken entscheidend sei: Sie wissen nicht, wie sie auf Problemsituationen reagieren sollen. In der Medizin spricht man vom vermeidenden Coping: Nach Hilfe zu fragen und über Gefühle zu sprechen fallen schwer.

Anorexie ist weiblich

Auch soziale Medien spielen eine immer größere Rolle, sagt Karwautz: "Sie sind nicht die Ursache, aber natürlich macht es was mit jungen Menschen, wenn sie sich ständig vergleichen." Betroffene werden zudem immer jünger, beobachtet er: "Die kommen schon mit elf Jahren zu uns. Das war früher eine Rarität, heute ist das normal."

Und meistens sind es Mädchen: "Mindestens 90, eher 95 Prozent der Magersuchtkranken sind weiblich", schätzt der Experte. Die Zahlen schwanken je nach Statistik, aber feststeht: Frauen und Mädchen erkranken überproportional häufig an Anorexie. Das hat zum einen biologische Gründe – die hormonellen Veränderungen in der Pubertät sind bei Mädchen massiver als bei Buben. Zum anderen ist es die Sozialisierung in einer Gesellschaft, in der der Wert einer Frau stärker von der Optik abhängt als der eines Mannes. "Der Selbstwert ist bei Frauen stärker mit Körperlichkeit verbunden als bei Männern. Dicke Männer erfahren weniger Stigmatisierung als dicke Frauen. Frauen müssen schlank sein, das scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein", sagt Karwautz. Betroffene von Essstörungen wollen sich diesen ungeschriebenen Regeln möglichst anpassen, bloß nicht auffallen und es allen anderen Recht machen – ein guter Nährboden für das Krankheitsbild Anorexie.

"Trauriges" Versorgungsnetz in Österreich

Die Therapiemöglichkeiten für Betroffene seien in Österreich "traurig", findet der Experte. "Es gibt keine Essstörungsklinik. In Ballungsräumen braucht es Einrichtungen, die genau auf diese Patientinnen zugeschnitten sind", appelliert Karwautz, der mit seinem Team acht Betten für alle Betroffenen von Essstörungen in Wien zur Verfügung hat, wie er berichtet.

Das mangelnde multidisziplinäre Versorgungsnetz macht Hilfestellungen im privaten Bereich umso wichtiger. Viele hätten Scheu davor, Betroffene anzusprechen und Sorge zu äußern. Aber solange das Gespräch aus einem ehrlichen Bedürfnis und dem Wunsch zu unterstützen heraus entstehe, sei das unbegründet, sagt Karwautz und rät zum Gespräch: "Man löst keine Essstörung aus, indem man nachfragt." Im besten Fall öffnet sich die Person, fühlt sich gesehen und unterstützt, und "im schlimmsten Fall sagt die Betroffene: Du irrst dich, ich hab nichts, mir geht’s gut." (poem, 22.3.2022)