Andrej Kurkow ist einer von sieben Millionen ethnischen Russen in der Ukraine, er schreibt auf Russisch. In Russland werden seine Bücher aber seit 2008 nicht veröffentlicht, seit 2014 ist es verboten, sie einzuführen.

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Im "Ukrainischen Tagebuch" hielt er 2014 die Proteste auf dem Kiewer Maidan fest, im Roman "Graue Bienen" erzählte er 2019 von einem Bienenzüchter im Donbass – und plädierte trotz ideologischer Unterschiede für die Notwendigkeit eines Zusammenlebens. Andrej Kurkow ist in Russland geboren und in der Ukraine aufgewachsen. Eine Lesetour, um Geld für humanitäre Hilfe in der Ukraine zu sammeln, führt ihn am Donnerstag auch ins Burgtheater-Kasino (19.30 Uhr) in Wien.

STANDARD: Sie kommen direkt aus der Ukraine nach Wien. Warum haben Sie sie nicht schon lang verlassen?

Kurkow: Weil ich ein ukrainischer Autor bin. Ich schreibe über das, was hier passiert, ich muss da sein.

STANDARD: Immerhin sind Sie kürzlich aus Kiew in die Westukraine übersiedelt. Nun werden auch hier die Angriffe massiver. Wie lebt man damit?

Kurkow: Ich denke nicht über Sicherheit nach. Alle warten auf bessere Nachrichten, ein Ende des Krieges. Wir sind mutig, weil die Armee das Land so gut verteidigt. Moralisch hat die Ukraine schon gesiegt, Putins Pläne sind bisher gescheitert.

STANDARD: Wie schlafen Sie nachts? Gehen Sie tagsüber ruhig außer Haus?

Kurkow: Wir hören jede Nacht den Sirenenalarm. Wir wachen bei jeder Sirene auf, kontrollieren die Nachrichten im Internet und schlafen dann wieder, bis die nächste Sirene losgeht. Es gibt schon einen Rhythmus des unterbrochenen Schlafs. Erst kürzlich waren wir mit unseren Söhnen in einem Café. Viele Leute versuchen, so wie früher zu leben.

STANDARD: Wie alt sind Ihre Söhne?

Kurkow: 19 und 23 Jahre.

STANDARD: Sie dürfen also als Wehrpflichtige das Land nicht verlassen ...

Kurkow: Ich bin der einzige ukrainische Staatsbürger in der Familie. Die beiden sind britisch, könnten weg. Aber sie helfen hier Flüchtenden.

STANDARD: Sie werden 61, sind damit gerade nicht mehr wehrpflichtig. Hätten Sie sonst zur Waffe gegriffen?

Kurkow: Alle werden das Land verteidigen, wenn es sein muss. Es gibt mehr Leute, die kämpfen wollen, als Waffen. Sie hinterlassen an Sammelpunkten ihre Nummern. Gibt es neue Waffen, werden sie angerufen.

STANDARD: Sie wurden in Russland geboren. Wie sehen Sie Russland nun?

Kurkow: Es gibt in der Ukraine sieben Millionen ethnische Russen wie mich. Das bedeutet nicht, dass sie pro Putin sind. Wir sind Ukrainer.

STANDARD: Sie schreiben oft über die Ukraine. Wie kam es zur Eskalation?

Kurkow: Putin ist alt und will in die Geschichte Russlands als jemand eingehen, der eine neue Sowjetunion aufgebaut hat. Dass er die Ukraine angreift, ist logisch, denn sie ist das Herz des slawischen Territoriums. Kiew ist mit 1.540 Jahren seine älteste Stadt, Moskau ist nur 875 Jahre alt, wurde zudem von einem Kiewer Prinzen gebaut, der in Kiew begraben liegt. Ohne Ukraine kann es kein russisches Imperium geben.

STANDARD: Hätten Sie sich aber so einen großflächigen Angriff erwartet?

Kurkow: Ich glaubte, dass es eine große Eskalation im Donbass geben werde. Dass Putin Städte wie Mariupol zerstört, Dörfer, Theater und Krankenhäuser bombardiert und es so viele zivile Opfer geben wird, hätte ich mir nie gedacht. In Mariupol wurden ja alle Theaterstücke praktisch auf Russisch gespielt. Putin tötet russischsprachige Bevölkerung.

STANDARD: Was sagen Ihre Familie und Ihre Freunde in Russland dazu?

Kurkow: Ich habe keinen Kontakt zu meinen Verwandten in Russland. Von meinen Bekannten dort habe ich keine Informationen. Russische Autorenfreunde leben im Ausland.

STANDARD: Wie optimistisch waren Sie auf dem Maidan 2014 für die Zukunft?

Kurkow: 2004/05, während der Orangen Revolution, war ich sehr optimistisch. Ich dachte, die ukrainische Gesellschaft ist geeint. 2013/14 war es schon schwieriger, weil es Gruppen mit vielen verschiedenen Zielen auf dem Maidan gab. Die Grundidee war: weg von Russland. Damit war ich natürlich einverstanden. Doch ich habe gesehen, dass die Ukraine auch nicht genug Berufspolitiker hat, die Verantwortung übernehmen können, insbesondere für schnelle Veränderungen. Auch nach diesem Krieg werden wir Politiker und Beamte brauchen, die 24 Stunden am Tag für das Land arbeiten.

STANDARD: Wird das klappen?

Kurkow: Die Ukrainer sind demokratischer als die Russen, weil sie verstehen, dass Freiheit das Wichtigste ist. In Russland war die Hauptsache immer Stabilität und genug Essen. Aber die Ukrainer sind Individualisten. In der sowjetischen Zeit gab es hier viel mehr Dissidenten als in Russland. Allerdings haben wir eine größere Tradition der Anarchie als der Demokratie. Den Unterschied müssen die Ukrainer lernen. Aber auch mit der heutigen Anarchie in den Köpfen sind wir ein demokratisches Land. Es gab keine Zensur seit 1991, keine Probleme wegen der Pressefreiheit.

STANDARD: Kann es mit Putin Kompromisse geben? Muss er untergehen?

Kurkow: In jedem Krieg sind Kompromisse möglich. Wichtig ist, dass das Volk nicht glaubt, seine Regierung habe es damit verraten. Ich bin aber kein Politiker, habe kein Recht, über Kompromissdetails zu reden.

STANDARD: Wie weit muss die Unterstützung von EU und Nato gehen?

Kurkow: Der EU-Beitritt ist obligatorisch, es wird keine andere Garantie für Sicherheit geben.

STANDARD: Hat Europa zuletzt genug für die Ukraine getan?

Kurkow: Europa hat in den letzten Jahren fast nichts für die Ukraine getan. Es war naiv und hat auch erst jetzt verstanden, was das heutige Russland ist. Ich verstehe, dass Europa Angst vor Russland hat und dass es abhängig ist. Ich hoffe aber, dass es genug Politiker gibt, die die Ukraine unterstützen. Alle Russen, die Putin unterstützen, müssen in der Welt boykottiert werden. Ohne seine Positionierung gegen Putin kann man also auch nichts mit einem russischen Künstler machen. (Michael Wurmitzer, 23.3.2022)