Zugegeben, es klingt nach Science-Fiction: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angekündigt, über eine eventuelle künftige Vereinbarung mit Russland per Volksabstimmung entscheiden zu lassen. In einem Land mit zerbombten Städten, zerstörter Infrastruktur und millionenfach ins Ausland geflohenen Bürgerinnen und Bürgern ist das derzeit nur schwer vorstellbar – nicht nur aus organisatorischen Erwägungen, sondern vor allem aus politischen.

In der Ukraine herrscht weiterhin Kriegsrecht. Gleichzeitig sind Teile des Landes von russischen Truppen besetzt, was ein Referendum natürlich ausschließen würde. Man erinnere sich an das Jahr 2014, als auf der ukrainischen Schwarzmeerhalbinsel Krim über die Eingliederung in die Russische Föderation abgestimmt wurde. Der Urnengang wurde von der Ukraine selbst und den meisten anderen Staaten nicht anerkannt – unter anderem deshalb, weil die Krim damals bereits unter massivem russischem Druck stand.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angekündigt, über eine eventuelle künftige Vereinbarung mit Russland per Volksabstimmung entscheiden zu lassen.
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Ein auch nur annähernd ähnliches Szenario kann nicht in ukrainischem Interesse sein. Und dass Moskau in absehbarer Zeit seine Truppen abzieht, um freie und faire Wahlen in der Ukraine zu ermöglichen, ist ein Gedanke, den wohl nicht einmal die größten Optimisten im Repertoire haben. Abgesehen davon, dass eine Verhandlungslösung, über die dann abgestimmt werden könnte, in weiter Ferne liegt und wohl solch komplizierte Punkte wie den Status der Krim und des Donbass oder das Verhältnis der Ukraine zur Nato beinhalten müsste.

Weltfremd ist Selenskyjs Erklärung dennoch nicht. Sie mag vielleicht keine unmittelbare Zukunftsperspektive abgeben, dafür aber sagt sie umso mehr aus über die Gegenwart. Selenskyj sendet mit ihr ein Signal an die Welt und an sein russisches Gegenüber Wladimir Putin: In Kiew regiert kein Alleinherrscher.

Demokratiedefizite

Freilich gab und gibt es auch in der Ukraine Demokratiedefizite. Im versprochenen Kampf gegen die Korruption etwa war Selenskyj längst nicht so erfolgreich, wie viele das erhofft hatten. Doch insgesamt hat sich über die Jahre ein demokratischer Diskurs entwickelt, in dem Meinungsvielfalt nicht bloß als Klotz am Bein der Regierenden gilt. Nun richtet Selenskyj dem Kreml aus, dass er nicht vorhat, sich von Moskau am Verhandlungstisch zu einsamen Entscheidungen zwingen zu lassen. Und ein wenig schwingt da auch mit, dass er sich selbst nicht für den einzigen Garanten der Freiheit seines Landes hält.

Vor allem aber stößt er Putin mit der Nase auf dessen eigenes falsches Narrativ vom Krieg: Mit der Idee eines Referendums, und sei sie noch so vage, führt er die Behauptung Moskaus, man kämpfe nicht gegen die Menschen in der Ukraine, sondern lediglich gegen eine "Junta" in Kiew, gegen eine "Bande von Drogenabhängigen und Neonazis", einmal mehr ad absurdum.

Es hat sich gezeigt, dass die russische Armee zwar Regionen erobern kann, aber kaum Unterstützung in der lokalen Bevölkerung findet. Russen und Ukrainer seien "ein Volk", hat Putin jüngst geschrieben, ein "geeintes Ganzes". Mit jeder Rakete, die auf die Ukraine fällt, bombt er diesen Teil des "Ganzen" ein Stück weiter von sich weg. Auch das war Selenskyjs Botschaft an Putin: Wir beide wissen nicht, wann und wie dieser Krieg endet. Aber ich bin es, der auf die Menschen in meinem Land bauen kann. (Gerald Schubert, 22.3.2022)