Einerseits scheint es nicht ohne weiteres möglich zu sein, den Präsidenten eines überfallenen demokratischen Staates im Parlament sprechen zu lassen; andererseits dürfte es kein Problem sein, eigene Soldaten und Soldatinnen für ein europäisches Truppenkontingent aufzustellen.

Beide Themen werden in Österreich intensiv diskutiert – und in beiden Fällen geht es um die Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Neutralität, zu der sich die Republik 1955 per Verfassung verpflichtet hat. Und zwar mit immerwährender Gültigkeit.

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Klaudia Tanner: nicht schweigen bei Verletzung des Völkerrechts.
Foto: Reuters / Johanna Geron

Was die militärische Komponente angeht, so ist für die Kanzlerpartei ÖVP klar: Die österreichische Neutralität beziehe sich auf militärisches Engagement, nicht aber auf die politische Positionierung. Hier solle und müsse die Republik Stellung beziehen. Insbesondere dann, wenn es darum gehe, Russlands Angriff auf die Ukraine zu verurteilen.

Diese Parole gab Bundeskanzler Karl Nehammer schon vor Wochen aus – und dieser Linie folgt auch Verteidigungsministerin Klaudia Tanner als Ressortverantwortliche für das Bundesheer und für dessen Integration in den neuen "Strategischen Kompass" der Europäischen Union.

Neue sicherheits- und verteidigungspolitische EU-Doktrin

Es handelt sich dabei um das Anfang der Woche nach rund zweijährigen Verhandlungen formell auf EU-Ebene beschlossene Konzept zum Aufbau einer EU-Militärunion bis zum Jahr 2025. Einer der Kernpunkte dieser neuen sicherheits- und verteidigungspolitischen Doktrin ist nicht der Aufbau einer wie auch immer gearteten gemeinsamen EU-Armee, sondern die Installation einer permanent verfügbaren "schnellen Eingreiftruppe". Und bei dieser wird auch Österreich mitmachen – wie schon bei den "Battlegroups" der EU ab 2005, die bisher noch nie aktiviert werden mussten.

Für Tanner steht Österreichs Neutralität einem solchen Engagement nicht im Weg. Das betonte sie schon zu Wochenbeginn in Brüssel beim Vorbereitungstreffen für den am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel – und auch jetzt noch: Es gebe viele Möglichkeiten, wie sich das neutrale Österreich in die EU-Eingreiftruppe einbringen könne.

"Große Expertise" Österreichs

Schon seit 2011 steuere das Bundesheer für die Battlegroups "sehr große Expertise" bei, etwa in den Bereichen ABC-Abwehr (atomare, biologische, chemische Waffen) und Logistik, betonte Tanner am Mittwoch im Interview mit der APA. Diese Elemente seien aus ihrer Sicht kompatibel mit der Neutralität Österreichs – zumal der "Strategische Kompass" die künftige Eingreiftruppe, wie schon die Battlegroups, als rein friedenssichernde Krisenreaktionskraft verstanden wissen will.

Übrigens: Mit einer Truppenstärke von 5000 Soldaten und Soldatinnen wäre diese Einheit ohnehin weit entfernt von einer nennenswerten militärischen Schlagkraft im herkömmlichen Kriegsfall. Russland soll die Invasion in die Ukraine nach westlichen Geheimdienstangaben mit einer Truppenstärke von deutlich über 150.000 begonnen haben.

Maastricht und Lissabon

In der Sache ist das Konzept einer koordinierten Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU schon mehrere Jahrzehnte alt: Der Vertrag von Maastricht definierte 1992 die Materie im größeren Maßstab, sie wurde 2007 im Vertrag von Lissabon nochmals neu gefasst. Spätestens mit dem EU-Beitritt 1995 hat sich für Österreich die Neutralität in ihrer Ausgestaltung verändert. Das räumt auch Tanner ein. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt – sprich: inmitten des für den ganzen Kontinent bedrohlichen Ukraine-Krieges – sei eine Debatte darüber aber nicht zweckmäßig. "Wo man aber nicht schweigen darf, ist, wenn das humanitäre Völkerrecht verletzt wird."

Schützenhilfe bekommt Tanner von einer Parteifreundin: "Die Neutralität ist zweifelsohne ein hohes Gut für Österreich", betonte Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler am Dienstag. Und auch wenn sich diese mit dem EU-Beitritt 1995 verändert habe: "Wir leben sie nach wie vor." (Gianluca Wallisch, 23.3.2022)