Regierungsspitzen Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache auf Klausur im Mai 2018: Türkis-Blau ist längst passé, doch das damals paktierte Gesetz wirkt nach.

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Kein Einkommen, keine Krankenversicherung, das Konto im Minus: M. lebte nur noch von Spenden via Hilfsorganisationen. Doch die Behörde in Oberösterreich habe den Antrag auf Sozialhilfe drei Monate liegen gelassen, erzählt Birgit Lechner, Erwachsenenvertreterin des geistig beeinträchtigten und psychisch kranken 20-Jährigen. Als nach einer Beschwerde weitere vier Wochen verstrichen seien, sei sie selbst aufs Amt gegangen – und so lange geblieben, bis die willige, aber überlastete Bearbeiterin den Antrag abgefertigt habe.

Erfahrungen wie diese sind kein Einzelfall. Die neue Sozialhilfe habe die Verfahren weder vereinfacht noch zu einer schneller und effizienter gewährten Hilfe geführt: Das sagen mehr als 80 Prozent jener Funktionsträger, die wie Lechner Sozialhilfebezieher unterstützen.

Herausgefunden hat dies die Armutskonferenz, indem sie Fachleute mit Praxiserfahrung befragt hat; vorwiegend waren es Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Juristinnen und Juristen. Je nach Themenblock kamen 103 bis 159 Fragebögen beantwortet retour.

Nirgendwo Verbesserung

Der Fokus lag mit Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg auf jenen vier Ländern, die als Erste die alte Mindestsicherung durch eine Sozialhilfe nach Vorgaben der einstigen türkis-blauen Bundesregierung ersetzt hatten (siehe Wissen unten). Weil die Landesregierungen dabei Spielraum genossen, fällt das Urteil regional unterschiedlich aus.

Eine Verbesserung erkennt die Mehrheit der Befragten nirgendwo. In Salzburg stellen 74 Prozent fest, dass sich die von der Sozialhilfe umfassten Geld- und Sachleistungen im Vergleich zur Mindestsicherung verschlechtert haben, in Oberösterreich sind es 71 Prozent, in Niederösterreich 68 Prozent. Am moderatesten fielen die Einschnitte demnach in Vorarlberg aus, wo aber immer noch 54 Prozent einen Abstieg konstatieren.

Unterschiedlich harte Umsetzung

Ähnlich negativ fällt die Einschätzung aus, wenn es speziell um die Leistungen fürs Wohnen geht. Eine konkrete Verschärfung: Laut Sozialhilfegrundsatzgesetz ist der Bezug einer etwaigen Wohnbeihilfe als Einkommen anzurechnen, womit die Betroffenen im Gegenzug weniger Sozialhilfe bekommen. Doch offenbar setzen die Behörden den Passus unterschiedlich hart um, schließt Studienautor Andreas Wöckinger aus den Ergebnissen. Während in Oberösterreich 92 Prozent eine Verschlechterung sehen, urteilen in Niederösterreich "nur" 42 Prozent negativ. Für 48 Prozent ist die Situation gleich geblieben.

Die Praxis sei strenger, der Ton rauer geworden, sagt Carmen Bayer von der Salzburger Armutskonferenz – das gelte selbst dann, wenn das Bundesgesetz dies nicht dezidiert vorschreibt. So habe auch die Freigiebigkeit bei jenen Extraleistungen abgenommen, die Behörden ohne Rechtsanspruch in Härtefällen gewähren: 70 Prozent erkennen eine Verschlechterung, nur knappe acht Prozent eine Verbesserung.

Beim Essen sparen

Wurden für die Umfrage gezielt Personen mit einer kritischen Meinung ausgewählt? Man habe quer durch die Organisationen Fragebögen geschickt, erwidert Armutskonferenz-Sprecher Martin Schenk. Für ihn sind die Resultate ein Beleg, dass die Sozialhilfe in Krisen – erst Pandemie, nun Teuerung – versage. Angesichts steigender Preise für Wohnen und Heizen bedürfe es dringend großzügigerer Leistungen – "denn sonst sind Sozialhilfebezieher gezwungen, beim Essen zu sparen". (Gerald John, 24.3.2022)