Bild nicht mehr verfügbar.

Das Hackerkollektiv hat Russland den Cyberkrieg erklärt.

Foto: Yves Herman/Reuters

Mit einem Schlag waren sie wieder im öffentlichen Bewusstsein. Am Morgen des 24. Februar, nur wenige Stunden nach Kriegsbeginn in der Ukraine, teilte das Hacking-Kollektiv Anonymous auf einem seiner Twitter-Kanäle mit, dass man sich nun "offiziell im Cyberkrieg gegen die russische Regierung" befinde. Ähnlich öffentlichkeitswirksam wie die Kriegserklärung waren einige der Aktionen, die Mitglieder der Gruppe in den darauffolgenden Tagen für sich reklamierten.

So zwangen sie mit DDoS-Attacken – dabei griffen hunderte Millionen Geräte gleichzeitig auf ausgesuchte Webseiten zu – nicht nur die Server des staatlichen russischen Propagandasenders RT News in die Knie. Auch der Internetauftritt des russischen Verteidigungsministeriums soll vorübergehend nicht erreichbar gewesen sein. Auch andere russische Medien wurden Opfer der Attacken. Auf den Webseiten von Tageszeitungen wurden vorübergehend Antikriegsaufrufe eingeblendet und vor Präsident Wladimir Putin und seinen "gefährlichen Lügen" gewarnt.

Der medienwirksamste Hack, der sich ab 26. Februar millionenfach in sozialen Medien verbreitete, gelang beim russischen Staatsfernsehen. Diverse Kanäle strahlten für mehrere Minuten aktuelle Bilder aus der Ukraine aus. Neben der brutalen Invasion der russischen Truppen wurde das Leid der Bevölkerung aufgrund der Angriffe gezeigt. Auch proukrainische Durchhalteparolen sowie nationale Musik waren zumindest für kurze Zeit zu sehen und zu hören, bevor der Hackerangriff abgewehrt werden konnte.

Am Donnerstag verkündete Anonymous auf Twitter, man habe die russische Zentralbank erfolgreich gehackt. Die über 35.000 Dateien werde man innerhalb von 48 Stunden veröffentlichen, drohte das Kollektiv in dem Tweet.

Wer ist Anonymous?

Dass die seit 2003 in unterschiedlicher Ausprägung auftretende Bewegung aktuell wieder so präsent ist, überrascht nicht. So inhomogen die Ziele und Aktivitäten auch sind, sehen sich viele in der Anonymous-Bewegung als Kämpfer für die Unterdrückten in der Gesellschaft – gehe es nun gegen mächtige Regierungen oder kapitalistische Konzerne. Als Symbol gilt seit jeher die aus dem Comic "V wie Vendetta" entlehnte Maske, mit der der katholische englische Attentäter Guy Fawkes aus dem 17. Jahrhundert illustriert wurde.

"Jeder und jede kann vorgeben, Teil von Anonymous zu sein. Daher ist es unmöglich zu sagen, wer hinter dem Kollektiv steckt und von wo aus die meisten Aktivitäten durchgeführt werden", sagt Joe Pichlmayr, Chef der Wiener Sicherheitsfirma Ikarus, dem STANDARD. Da in der Vergangenheit immer wieder Personen enttarnt und strafrechtlich belangt wurden, die zeitweise eine wichtige Rolle innerhalb der Bewegung spielten, ändert sich die Zusammensetzung des losen Kollektivs ständig.

Im Vergleich zu den Anfangsjahren, als vorwiegend über Foren und andere Message-Bords kommuniziert wurde, finden die Organisation von Hackingattacken und der Austausch über gefundene Sicherheitslücken mittlerweile hauptsächlich über verschlüsselte Messengerdienste wie Threema oder Telegram statt. Als guter Kommunikationskanal nach außen hat sich Twitter etabliert. Die größten Accounts haben zusammengerechnet über 15 Millionen Follower.

Viel Aktivismus, ein bisschen Hacking

Dass die technische Versiertheit der Anonymous-Sympathisanten sehr unterschiedlich ist, zeigen die diversen Angriffe. Neben interessanteren Hacks wie dem Kapern von Fernsehkanälen oder der kolportierten Erbeutung von 360.000 Dateien der russischen Zensurbehörde Roskomnadsor steht vielerorts der Aktivismus im Vordergrund.

So rief der älteste und größte Anonymous-Twitter-Account mit fast acht Millionen Followern dazu auf, Einträge zu russischen Firmen und Sehenswürdigkeiten auf Google Maps mit Informationen zum Ukraine-Krieg zu versehen und so die russische Bevölkerung über die Vorgänge zu informieren.

Die Guy-Fawkes-Maske, das Symbol der Hacking-Bewegung Anonymous, ist vereinzelt auch bei ukrainischen Kämpfern zu sehen.
Foto: ARIS MESSINIS/AFP

Wer auf die Bewertungen in einem Moskauer Innenstadt-Café klickte, bekam in der Folge Kriegsbilder, aber auch Appelle für den Frieden und gegen Russlands Präsident Putin angezeigt. Die Funktion wurde kurze Zeit später von Google Maps abgedreht. Die meisten ausländischen Internetdienste sind mittlerweile in Russland nicht mehr erreichbar.

Als klassischer Hacktivismus gilt auch die Übernahme diverser Überwachungskameras in Russland, deren Livestreams ebenfalls Antikriegsbotschaften anzeigten. Ähnliches will die Bewegung mit dem Hacken von Netzwerkdruckern übers Internet erreichen. Über 100.000 Seiten sollen die Drucker nach dem Angriff in russischen Firmen ausgespuckt haben. Auf diesen sind Informationen zu finden, wie man ins unzensierte Internet kommt und seine Webkommunikation vor russischen Behörden schützt.

Warnung vor Hacktivismus

Sicherheitsexperten zufolge waren die meisten bisher kommunizierten Angriffe technisch harmlos. Vorhandene Schwachstellen dürften mit herkömmlichen Werkzeugen ausgenutzt worden sein, die nicht besonders viel technische Expertise erfordern.

Das bestätigt auch Pichlmayr, gibt gleichzeitig aber zu bedenken, dass man nicht wisse, was im Hintergrund passiert. Wären etwa Angriffe auf kritische Infrastruktur wie die Energie- oder Wasserversorgung erfolgreich, könnte das schnell zu einer Eskalation des Krieges auch im Cyberraum führen, ist Pichlmayr überzeugt.

Als Organisator diverser Hacking-Wettbewerbe für technologieaffine Jugendliche warnt der Ikarus-Chef eindringlich davor, sich an derartigen Aktivitäten zu beteiligen: "Ich finde es super, wenn junge Menschen sich politisch betätigen und etwas verändern wollen. Allen, die im Namen von Anonymous in den Krieg einsteigen wollen, kann ich aber nur sagen: Finger weg!"

"Wie in die Ukraine kämpfen fahren"

Abgesehen von der Vielzahl an Gesetzen, die man mit derartigen Hacking-Aktionen breche, bringe man sich selbst ernsthaft in Gefahr, sollte man tatsächlich ein wichtiges Ziel in Russland treffen und von dortigen Behörden ausgeforscht werden. "Das ist wie in den Zug steigen und sich in der Ukraine einem Regiment anschließen. Darüber sind sich viele, die es gut meinen, nicht bewusst", sagt Pichlmayr.

Wer seine technischen Fähigkeiten unter Beweis stellen und diesen Weg verfolgen wolle, habe eine Vielzahl an Optionen, von Institutionen im Innenressort und der Landesverteidigung bis zu Sicherheitsfirmen. (Martin Stepanek, 24.3.2022)