Svitlana Petrovska im Hotel in Wien, wo sie auf der Flucht aus ihrer Heimatstadt Kiew ein paar Tage Station machte.

Foto: Robert Newald

Svitlana Petrovska kommt aus einer Familie von widerständigen Intellektuellen, Lehrerinnen und Lehrern. Teile der jüdischen Familie wurden 1941 bei dem Massaker im Tal Babyn Jar bei Kiew ermordet. Durch die Familiengeschichte zieht sich ein roter Faden. Großvater und Mutter unterrichteten ihre gehörlosen Schutzbefohlenen nicht nur, sie wohnten mit ihnen und ließen sie auch in dunkelsten Zeiten nicht allein.

In einem Hotelzimmer in Wien, erschöpft von der Flucht, erzählte die Historikerin und pensionierte Lehrerin dem STANDARD diese Familiengeschichte, ihre eigene Biografie und Erlebnisse auf ihrer Flucht aus Kiew. Petrovska ist auf dem Weg nach Berlin, wo ihre Tochter, die Schriftstellerin und Bachmannpreisträgerin Katja Petrovska, lebt.

"Ich bin eine sehr alte Lehrerin", sagt die 1935 in Kiew geborene Petrovska, "63 Jahre war ich Lehrerin". Über die Grenzen der Ukraine hinaus kennt man die Holocaust-Überlebende aus einer jüdisch-ukrainischen Familie unter anderem als Vorsitzende der ukrainischen Janusz-Korczak-Gesellschaft. Die Organisation hat sich weltweit dem Andenken des polnischen Kinderarztes, Schriftstellers und Pädagogen Korczak verschrieben, der die Kinder, die er unterrichtete, bis in die Gaskammern von Treblinka begleitete.

Orden des Lächelns

Außerdem ist sie Trägerin des "Ordens des Lächelns", einer seit den 1960ern von Kindern verliehenen Auszeichnung für Erwachsene, die sich weltweit für das Wohl von Kindern und Jugendlichen engagieren. "Ich habe den Orden jetzt bei mir", sagt Petrovska und deutet zu ihrem kleinen Gepäck, mit dem sie vor rund drei Wochen aus ihrer geliebten Heimatstadt Kiew aufbrach. "Ich wollte zuerst nicht aus Kiew weg", erzählt sie. Die ersten Tage des Krieges blieb sie in Kiew und stellte sich für das investigative Onlinemedium Saborona für ein Video zur Verfügung, in dem sie sich via Youtube direkt an das russische Volk, besonders die Frauen und Menschen, die wie sie Geschichte unterrichten, wendet.

Sie bittet die Frauen, ihre Söhne nicht in den Krieg Putins zu schicken. Und sie erklärt den Russinnen und Russen, warum sie das "moralische Recht" habe, sie darum zu bitten. Sie habe das russische Volk immer freundschaftlich wahrgenommen. Als sie als Kind auf der Flucht war, war sie schwer krank, und russische Frauen hätten sie gepflegt. Und: Ihre eigene Mutter, Rosa Krschwina-Owdijenko, hatte 200 Kindern aus Leningrad, die während der Blockade der Stadt wohl gestorben wären, das Leben gerettet.

Das Waisenhaus von Rosa

Rosa hatte in Kiew ein Heim für Gehörlose und Waisenkinder geleitet, das ihr Vater, Svitlanas aus Warschau stammender Großvater Osijel Krschewin, gegründet und mit seiner Frau, Großmutter Anna, geleitet hatte. Sie hatten bereits in Warschau ein Heim geleitet und rund ein Dutzend ihrer Schützlinge nach Kiew mitgenommen. Doch 1939 starb Osijel in Kiew – wahrscheinlich am plötzlichen Herztot. "Ich sehe ihn noch am Korridor in unserer Wohnung in Kiew am Boden liegen, er starb in dem Moment, als er erfuhr, dass die Nazis Warschau besetzt hatten – seine jüdische Mutter war noch dort. Sie war geblieben, weil sie nicht glauben wollte, dass ihr die Deutschen etwas tun würden." Seine Frau Anna und Tochter Helen, Svitlanas Großmutter und Tante, wurden 1941 beim Massaker in Babyn Jar von den Nazis ermordet. "33.000 Menschen wurden damals in nur zwei Tagen getötet", erinnert Petrovska.

Als Rosa 1941 mit der noch nicht sechsjährigen Svitlana aus Kiew bis in das russische Dorf Kinel-Tscherkassy fliehen musste, begann sie auch dort sofort wieder zu unterrichten – und nahm schließlich 200 Leningrader Kinder in einem Waisenhaus auf. "Kein einziges dieser Kinder ist verstorben, wir haben alle zusammen in dem Heim gewohnt", sagt Svitlana heute voll Stolz über ihre Mutter.

Bilder der Erinnerung

Svitlana war 1941 auf offenen Lastwagen und in Viehwaggons auf der Flucht. Als sie davon erzählt, legt sie die Hände vors Gesicht und wird still. Der Baustellenlärm und das Vogelgezwitscher eines der ersten warmen Wiener Tage dringt aus dem siebenten Bezirk ins Zimmer. Dann weint sie. "Diese Bilder von meiner Flucht als Kind sehe ich jetzt wieder vor mir, diese Zerstörung, und ich erinnere mich an Bilder der brennenden Wolga", sagt sie und wischt sich ein paar Tränen weg.

Als sie vor wenigen Wochen mehr als 80 Jahre später in einen Bus stieg, weil es körperlich zu anstrengend wurde, vor den Bomben in Kellern auszuharren, fuhr sie abermals auf der Flucht durchs Land. "Da habe ich das erste Mal seit Beginn dieses Krieges wirklich weinen müssen. Nicht wegen der Zerstörung. Überall, wo wir durchfuhren oder anhielten, waren die Leute so hilfsbereit und entschlossen, ihre Heimat zu verteidigen", sagt Petrovska mit fester Stimme.

Schon vor dem Großvater waren Petrovskas Vorfahren Lehrer in verschiedenen Ländern der k. u. k. Monarchie. Petrovska selbst und ihr verstorbener Ehemann Myron Petrowskyj machten der widerständigen Intellektuellenfamilie alle Ehre. Wegen verbotener Gedichte gab es Razzien bei ihrem Mann, einem Kulturwissenschafter, und das Paar sympathisierte 1968 mit den Aufständischen im Prager Frühling. "Ich habe als Historikerin auch Samisdat-Bücher gelesen" (Samisdat ist nicht systemkonforme Literatur in der Sowjetunion,Anm.).

"Ungebildeter Putin"

Putin ist für Petrovska "kein gebildeter Mann, nicht belesen genug, die Geschichte der Ukraine zu verstehen. Er ist nur ein KGBler." Und die historische Situation der Ukraine sei "ja auch wirklich kompliziert. Zuerst war Hitler den Truppen ukrainischer Nationalisten willkommen, sie dachten, er würde ihnen Unabhängigkeit bringen. Aber nur zuerst. Bald haben die Ukrainer gegen die Faschisten gekämpft", erklärt die Geschichtslehrerin, "man muss aber auch sagen, manche Ukrainer haben an den Erschießungen in Babyn Jar teilgenommen, manche Soldaten und Polizisten die Faschisten unterstützt. Aber solche Kollaborateure gab es in jedem Land." Doch Putin sei einfach "gegen die Unabhängigkeit der heutigen Ukraine".

Neben der mütterlichen Seite der Familie gab es die ihres Vaters. Der war eigentlich überzeugter Kommunist, aber später gegen Stalin – und wollte nicht mehr in die Partei. Als Teil der Roten Armee war er in einem Gefangenenlager im Pongau – die Gegend besuchte Petrovska am Donnerstag auch, bevor es nach Deutschland weiterging.

Sie war vor Kriegsausbruch dabei ihre Memoiren zu schreiben. "Ich habe meine Biografie noch nicht fertig geschrieben. Aber ich habe meine Bücher nicht bei mir", sagt sie und sieht sich im Zimmer um, "aber das ist in Ordnung, ich habe mich für die Evakuierung entschieden", sagt sie dann – und es klingt, als wolle sie sich selbst trösten.

"Da waren viele Kinder"

Dann erzählt Petrovska, warum sie noch nicht in Berlin ist, warum sie zehn Tage in Budapest blieb. "Da waren viele Kinder in meinem Bus", erzählt sie, und man ahnt schon, dass diese Geschichte sich irgendwie an jene von Rosa und Osijel reiht: "In Budapest angekommen, habe ich bemerkt, wie sie immer trauriger und unruhiger wurden. Da habe ich beschlossen, noch bei ihnen zu bleiben." Sie organisierte Theaterkurse und Stadtrundfahrten für die Kinder. "Budapest ist ja eine schöne Stadt, wenn sie schon da sind, sollen sie Kultur sehen. Und ich wollte die Kinder einfach nicht alleinlassen." Das sagt sie, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. (Colette M. Schmidt, 25.3.2022)