Der Frühling wird kommen, er wird gelb-blau sein: auf dem Bild ein aktuelles Wandgemälde in Prag.

Foto: EPA / Martin Divisek

Hallo, Welt! Ich weiß, du blickst auf uns. Schaust mit den erschreckten Augen Polens. Mit den zögerlichen Gesten Frankreichs. Mit den kalkulierten Schritten Deutschlands. Mit den aufgeregten Rufen Lettlands. Mit dem skeptischen Herumgeeiere Ungarns. Mit dem entspannten Brummeln Italiens. Mit dem stummen Schweigen Israels. Mit den fernen Rufen der USA und Kanadas. Und mit den Augen einer Hundertschaft anderer Länder.

Du schaust verlegen. Oft senkst du die Augen. Besonders, wenn wir unsere Kinder während der ständigen Raketenangriffe mit unserem Leib schützen. Und wenn du dann doch wagst, deine Augen zu erheben, schaust du beeindruckt. Verwunderte Blicke tauschend, fragst du: Hör mal, was ist das für ein Land, diese Ukraine? Man attackiert sie mit dem Trommelfeuer der Grad-Raketen, doch sie hält stand. Mit Marschflugkörpern bedeckt man sie, doch sie hält stand. Von überall knirschen die Panzerketten, doch sie hält stand.

Ganz offen sagt man ihr: "I am very sorry and deeply concerned, but …", und sie antwortet: "Sei’s drum, ist schon gut, ich werde mal inzwischen ein weiteres Flugzeug vom Himmel holen." Zwischen die Augen nagelt man ihr den nuklearen Knopf, doch sie lacht und bereitet schweigend ihre "Banderabowle". Die Welt hält den Atem an und kauft panisch das Jod auf, doch sie hält stand. Aus welchem Stahl ist denn diese Ukraine gemacht? Was war da in der Milch ihrer Mutter? Und womit nähren die Tausenden von Freiwilligenhänden ihre Krieger?

Wir wussten nicht, welche Kraft wir haben

Weißt du was, Welt, du weißt es tatsächlich nicht. Auch wir wussten es bis jetzt nicht wirklich. Wir wussten nicht, welche Kraft wir haben. Eine derartige Stärke. Und eine derartige Liebe. Sie war immer da. Nur lag sie lange Jahre unter den Ruinen des Sowjetmülls, der "russischen Welt", unter dem Gefieder der Friedenstauben und dem Gezweig der Liebesbäume. Sie lag da und wartete, um auszubrechen. Nicht als Angst. Angst – das ist das, was du fühlst, Welt. Wir empfinden etwas anderes.

Wir empfinden Zorn. Wegen jedes getöteten Kindes. Wegen jedes verdorbenen Schicksals. Wegen jeder ausgebrannten Stadt. Wegen jedes zerstörten Traums. Und dieser Zorn gibt uns Kraft.

Wir spüren die Freiheit. Zum ersten Mal. Wahrhaftig. So scharf und stark. Die nackte, so verletzliche und zugleich so mächtige Freiheit. Und diese Freiheit gibt uns Kraft.

Wir empfinden auch Liebe. Oh, wie stark wir diese Liebe fühlen. Während wir uns nicht aufspalten in die unsrigen und die Fremden. Während wir alle im höchsten Grad verwandt sind. Während Millionen von Händen methodisch den Weg zum Sieg bereiten, jeder an seinem Platz. Und diese Liebe gibt uns Kraft.

Darum, Welt, hab keine Angst. Wir sind auf dem Posten. Und wenn du dich dann einmal zu fragen schämst, werden wir dir von uns aus sagen: Ja, der Frühling wird kommen, und er wird gelb-blau sein. Egal, ob du Angst hast oder nicht. (Olena Pshenychna, ALBUM, 26.3.2022)