Verbrechen in und an der Ukraine. Russischer Beschuss bei der Sankt-Michaels-Kathedrale in Kiew (sie wurde 1936 von Stalin gesprengt, 1999 wiederaufgebaut).

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Die Bilder seien kaum zu ertragen, berichten 2022 westliche Journalisten aus dem von der russischen Armee belagerten Mariupol.

Die Bilder seien kaum zu ertragen, berichteten die wenigen ausländischen Beobachter, die 1932/33 die große, künstlich herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine erlebten.

Damals leere Dörfer, Bauernfamilien, die in die Städte flüchteten und auf den Straßen tot zusammenbrachen (siehe Foto). Zu Skeletten abgemagerte Kinder – und Eltern, die an ihren Kindern Kannibalismus verübten.

Opfer der von Stalin herbeigeführten Hungersnot (Holodomor) in Charkiw.
Foto: Archiv der Diözese Wien / Gareth Jones

Heute zusammengeschossene Städte, tote Mütter und ihre Kinder in Geburtskliniken, verscharrt in rasch ausgehobenen Gruben am Straßenrand. Und am Horizont die Möglichkeit einer neuen Hungersnot. Der Getreideanbau wird durch den Krieg behindert, Schiffe mit Weizen wurden durch die russische Marine in den eroberten Schwarzmeerhäfen "erbeutet".

Verbrechen eines "Brudervolks"

Das sind die Verbrechen, die den Ukrainern durch die "eigenen Brüder" angetan wurden. Die große Hungersnot von 1932/33 war die Folge einer Aktion von Stalin, mit der in der Sowjetunion einerseits die Landwirtschaft "kollektiviert" (das Privateigentum beseitigt) und andererseits der ukrainische Unabhängigkeitsdrang abgewürgt werden sollte. Der Krieg Putins gegen die seit 1991 unabhängige Ukraine soll seinen Traum von der Wiedererrichtung eines russischen Imperiums verwirklichen.

Der Historiker Timothy Snyder hat diese Weltgegend in einem bahnbrechenden Werk "Bloodlands" genannt. In einem späteren Buch (The Road to Unfreedom) schreibt er: "Die reiche schwarze Erde der Ukraine war im Zentrum der beiden europäischen neoimperialen Projekte des 20. Jahrhunderts, dem der Sowjets und dann dem der Nazis. Kein anderes Land in Europa hat so viel koloniale Begierde angezogen."

Gehörten die Ukraine und Russland "immer schon" zusammen? Wladimir Putin versuchte das im Sommer 2021 mit einem großen historischen Aufsatz zu beweisen. In seinen Reden zu Kriegsbeginn sprach er der Ukraine die Eigenstaatlichkeit ab. Aber schon viel früher, im Juli 2013, tischte er anlässlich der Feiern "1025 Jahre Christianisierung der Kiewer Rus" in Kiew eine völkisch-religiös-historische Begründung auf: "Unsere spirituelle Einheit begann mit der Taufe der Heiligen Rus vor 1025 Jahren".

DER STANDARD

Es begann mit den Wikingern

Das ist nicht viel mehr als nationalistische Verschwurbelung einer komplizierten Geschichte. Die Kiewer Rus war um 900 eine Gründung einer Krieger- und Händleroberschicht von Wikingern (!), die ihre Drachenboote die Flüsse des Landes hinauf- und hinunterruderten. Von der Ostsee bis nach Konstantinopel. Großfürst Waldemar/Wolodymyr, der "Große" und der "Heilige", der sich taufen ließ, hatte Wikingerwurzeln und war ein (bruder-)mörderischer Warlord.

In den folgenden Jahrhunderten geriet die Kiewer Rus unter den Einfluss der Litauer, Polen, Mongolen, Tataren, Osmanen. Erst im 17. Jahrhundert erlangten die Moskowiter die Oberherrschaft. Im 19. Jahrhundert entstand eine ukrainische Nationalbewegung, die im Ersten Weltkrieg kurzfristig zu einem eigenen Staat führte. Nach der brutalen Wiedereingliederung durch die Sowjets 1921 blieb die Ukraine bis zur Auflösung 1991 in der UdSSR.

Keine Solidarität

Die unabhängige Ukraine gab ihre Atomwaffen auf und erhielt dafür von Russland die Zusicherung ihrer territorialen Souveränität. Spätestens ab 2014, nachdem die Ukrainer in der Maidan-Revolution einen moskauhörigen, korrupten Präsidenten vertrieben hatten (weil er ein Abkommen mit der EU sabotierte), war Putin auf die Wiedereingemeindung der Ukraine aus. Es folgten die Annexion der Krim und die Anzettelung der Sezession der Ostukraine. Europa blieb unalarmiert. Die Nord-Stream-2-Pipeline wurde beschlossen. In Österreich durfte Putin vor der Wirtschaftskammer über "gute Diktatur" witzeln.

"Europa versteht nicht, was es mit dem allen anfangen soll", sagte schon 2015 der griechisch-katholische Erzbischof von Lemberg zu österreichischen Journalisten. "Putins Ziel ist die Destabilisierung der Ukraine. Aber wir haben keine Solidarität in Europa."

Holodomor-Denkmal.
Foto: Imago / Ukrinform / Hannadii Minchenko

In Kiew steht auf einer Anhöhe über dem Dnepr das "Holodomor"-Museum. Davor die Bronzestatue eines abgemagerten kleinen Mädchens, das eine Weizenähre gegen die Brust presst. Das symbolisiert das "Gesetz der fünf Ähren", wonach auch Kinder verurteilt wurden, die Überbleibsel auf den Feldern einsammelten. Das geschah im Zuge von Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft und "Liquidierung der Kulaken (Groß-und Mittelbauern, Anm.) als Klasse".

Als die Bauern versuchten, die Ernte zu verstecken, wurden bewaffnete Trupps ausgeschickt, um das Korn zu beschlagnahmen – inklusive des Saatguts. Das Ergebnis war eine entsetzliche Hungersnot, der bis 1933 drei bis vier Millionen Menschen zum Opfer fielen, ein Drittel davon Kinder. 1932/33 wurden rund 2500 Verurteilungen wegen Kannibalismus ausgesprochen.

Hungertod, von Stalin befohlen

Stalin rechtfertigte den Holodomor ("Vernichtung durch Hunger") sehr bald auch mit dem ukrainischen Nationalismus – und begleitete ihn durch eine blutige politische "Säuberung". Unter den Nationalisten gab es auch echte Rechtsextreme (und gibt es heute noch), aber das ändert nichts am sowjetischen Genozid in der Ukraine und an der heutigen Aggression gegen sie.

Bild nicht mehr verfügbar.

Reste der Uspenski-Kathedrale, 1942 von den Deutschen gesprengt.
Foto: Picturedesk.com / akg-images

In einer unfassbaren Täter-Opfer-Umkehr schrieb Stalin 1933 an den Schriftsteller Michail Scholochow: "Die geschätzten Getreidebauern führten eigentlich einen stillen Krieg gegen die Sowjetmacht. Einen Krieg durch Aushungern." Auf diesen Horror folgte Hitlers Wahn von "Rasse" und "Lebensraum", das zweite große Menschheitsverbrechen in der Ukraine im 20. Jahrhundert. Hitler setzte ab 1941 im "Vernichtungskrieg" sowohl auf die Ermordung der Juden als auch auf seinen "Generalplan Ost" zur Versklavung, Ausbeutung und zum schlichten Aushungern der ukrainischen (und russischen) Bevölkerung.

Hitler: "Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raums entschieden" (Monologe im Führerhauptquartier, 17. 9. 1941). Der "Hungerplan" vor dem Überfall auf die Sowjetunion sah den Tod von 30 Millionen Menschen vor. Die Deutschen brachten rund drei weitere Millionen Ukrainer um, davon 1,6 Millionen Juden.

Kultureller Genozid

Nicht zu vergessen ist der kulturelle Genozid. In Kiew konnte man bis vor kurzem eine Reihe großartiger Kathedralen besichtigen. Zwei davon, die Sankt-Michaels-Kathedrale und die Uspenski-Kathedrale, sind genaue Repliken. Die eine wurde von Stalin 1936 gesprengt, die andere 1942 von den Deutschen. Ab der Unabhängigkeit wurden sie sofort wiedererrichtet. Jetzt droht wieder Beschuss.

Putin bei der Feier der Christianisierung der Ukraine in Kiew.
Foto: Imago

In der Ukraine ist die orthodoxe Kirche in ein "Moskauer Patriarchat" und ein "Kiewer Patriarchat" gespalten. Jetzt noch mehr, denn der Patriarch Kyrill von Moskau unterstützt Putins Krieg. Dann gibt es noch die "ukrainische unierte" oder "griechisch-katholische" Kirche, mit orthodoxem Ritus, aber eben mit der römisch-katholischen Kirche "uniert".

Ein hoher Vertreter dieser Kirche sagte 2015 in Lemberg zu den österreichischen Journalisten: "Putin möchte der Herr Europas sein. Solange Putin lebt, herrscht die Angst, dass wir einen dritten Weltkrieg erleben."

Damals konnte man das als Russophobie von jemandem sehen, der lange unter Verfolgung gelitten hatte. Heute erinnert man sich mit Unbehagen an Putins aktuelle Drohung mit Atomwaffen. Man kann bei Putins Krieg nicht von "Genozid" sprechen, aber die Vertreibung von Millionen Menschen und die Zerstörung ganzer Städte ist das dritte "neoimperiale Projekt" in der Ukraine und in Europa. (Hans Rauscher, 27.3.2022)