Anders als im Herbst sind in die Intensivstationen nicht überlastet, doch Covid-Opfer gibt es nach wie vor: Anfang März gingen die Todeszahlen erstmals seit der Herbstwelle wieder über das erwartete Maß hinaus.

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Gerry Foitik machte sie zu Kronzeugen seiner Anklage. 200 Corona-Tote pro Woche würden "oft nur achselzuckend und billigend zur Kenntnis genommen", wetterte der Bundesrettungskommandant des Roten Kreuzes über die für seinen Geschmack viel zu lockere Pandemiepolitik der Regierung. Als Konsequenz kehrte er der Beratungskommission Gecko vergangene Woche den Rücken.

Was der Kritiker anspricht, fällt nicht erst seit seinem spektakulären Abgang auf: Während ausgiebig über die Auslastung der Spitäler oder die Kollateralschäden für die Wirtschaft diskutiert wird, spielt die Zahl der Verstorbenen im öffentlichen Schlagabtausch um die Corona-Regeln nur eine Nebenrolle. Sind die Toten der Omikron-Welle tatsächlich der verdrängte Beleg für eine fahrlässige Politik? Oder handelt es sich um beklagenswerte, aber kaum vermeidbare Fälle, wie sie angesichts der Pandemie in der Natur der Sache liegen?

Genau genommen sind vergangene Woche, laut den auf dem Dashboard der Gesundheitsagentur Ages ausgewiesenen Zahlen, 170 Menschen in Österreich an Covid-19 gestorben. Doch an der Aussagekraft hapert es. So wird es erfahrungsgemäß noch einige Nachmeldungen geben. Und gezählt werden laut Ages jene laborbestätigten Infektionsfälle, die vor dem Tod nicht als geheilt oder genesen gemeldet wurden. Da können also auch Personen dabei sein, die an einer anderen Krankheit gestorben sind, zu der sich Corona gesellt hat.

Unterschätzte Sterbezahl

Dennoch dürften die Ages-Daten die Opferzahl unter- statt überschätzen, sagt Florian Bachner, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). Er bezweifelt, dass alle Ärzte stets jeden Todesfall verlässlich auch ans Epidemiologische Meldesystem (EMS) melden. Jedenfalls hat die Statistik Austria, die sich auf die in den Totenscheinen genannten Ursachen stützt, im Vorjahr rund 900 Corona-Sterbefälle mehr gezählt als das Ages-Dashboard.

Die Bundesanstalt unterscheidet dabei auch zwischen Menschen, die Covid als Grundleiden (7.857 Fälle 2021) oder als todesbeschleunigende Begleiterkrankung hatten (1.192 Fälle). Dass eine Auswertung des deutschlandweiten Obduktionsregisters im Vorjahr zum gleichen Verhältnis zwischen an und mit Covid Verstorbenen kam, macht die heimischen Statistiker sicher: Die Daten dürften valide sein.

Die absolute Zahl allein taugt zur Einordnung allerdings nur begrenzt. Im Vorjahr starben rund 90.000 Bürgerinnen und Bürger an Leiden aller Art, und das hohe Durchschnittsalter der Covid-Toten – 77,7 Jahre bei Männern, 82,9 bei Frauen – legt einen Gedanken nahe: Hauptsächlich könnte es sich um gesundheitlich angeschlagene Menschen handeln, die in einem gewöhnlichen Jahr auch gestorben wären. Etwa an der Grippe, die dank der Hygienemaßnahmen seit Ausbruch der Pandemie weitgehend ausgelassen hat.

Massive Übersterblichkeit

Für zumindest zwei Phasen der Pandemie lässt sich diese Vermutung klar widerlegen: In den beiden bisherigen Herbstwellen schossen die Sterbefälle weit über das seit der Jahrtausendwende übliche Maß hinaus. Die erste Dezemberwoche 2020 brachte den Höchstwert seit 42 Jahren, der Todeszoll lag um 58,7 Prozent über dem Durchschnitt der fünf Jahre vor der Pandemie. Nur die Grippewelle 2016/17 verursachte einen vergleichbar hohen, allerdings schmäleren Peak. Das Coronavirus verursachte also zweimal eine massive Übersterblichkeit – wohlgemerkt trotz Lockdowns und aller anderen Restriktionen.

Im Vorjahr waren unter dem Strich neun Prozent der Sterbefälle auf Covid-19 als Hauptleiden zurückzuführen. Gleichzeitig starben auch etwa neun Prozent mehr als im Durchschnitt der fünf Jahre vor der Pandemie – obwohl, wie gesagt, eine Grippewelle ausblieb. Häufigste Todesursache blieb aber eine andere: Den 7.857 Covid-Toten stehen 14.402 Menschen gegenüber, die an chronischen Herzkrankheiten verstarben.

Ein schlechtes Zeichen

In der Omikron-Welle jedoch ist das Bild vorerst anders. Weil die nun dominante Variante nicht nur seltener schwere Krankheitsverläufe als ihr Vorgänger Delta auslöst, sondern auch auf eine viel breiter immunisierte Bevölkerung trifft, sei das individuelle Sterberisiko so niedrig wie noch nie in der Pandemie, rechnet Experte Bachner vor: Starben in den Wochen von Mitte März bis Mitte April 2020 laut GÖG noch mehr als vier von 100 Infizierten, so beträgt die Rate seit Jahresbeginn etwa eins zu 1.000. Einschränkend muss freilich dazugesagt werden, dass zu Pandemiebeginn deutlich weniger getestet wurde.

Trotz mehr als doppelt so hoher Ansteckungszahlen wie im Herbst sorgte Omikron im Jänner und Februar deshalb für keine substanziellen Ausschläge bei den Sterbefällen: Die wöchentlichen Zahlen bewegten sich innerhalb der Bandbreite gewöhnlicher Jahre, wenn auch im oberen Bereich. Jeder einzelne Todesfall sei tragisch, sagt Bachner, "aber statistisch gesehen gab es in den ersten beiden Monaten des Jahres ein ganz normales Sterbegeschehen". Allerdings sei eben auch erneut die Influenzawelle ausgeblieben.

Doch nun weist der Trend, getrieben von den massiven Infektionszahlen, nach oben. Das sei ein ebenso schlechtes Zeichen wie der Umstand, dass die Zahlen bereits über den Frühjahrswerten von 2020 und 2021 liegen, analysiert Marc Luy, Bevölkerungswissenschafter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: "Ich sehe in den Daten keinen Hinweis, dass wir die Dinge entspannt laufen lassen können. Wir steuern wieder auf eine Übersterblichkeit hin."

Auf dem Niveau der Grippe

Derzeit liegen die Sterbefälle insgesamt auf ähnlichem Niveau wie in den Frühjahren 2015 und 2018, als die zweit- und drittstärksten Grippewellen der letzten 20 Jahre das Land heimsuchten – Masken oder andere Gegenmaßnahmen waren damals freilich kein Thema.

Bei Vergleichen mit der Influenza ist aber auch anzumerken: Die Gefahr einer Krankheit bemisst sich nicht allein an den Todesfällen. Dass das Coronavirus auch Langzeitfolgen auslösen kann, gilt in der Fachwelt als gesichert. Wirklich einschätzen lässt sich das Ausmaß von Long Covid noch nicht.

Das Mortalitätsmonitoring der statistischen Abteilung Wiens zeigt heuer für ganz Österreich grosso modo noch keine signifikante Übersterblichkeit. Die Statistiker haben eine Bandbreite mit erwarteten Todesfällen pro Woche berechnet. Laut dieser Sonderauswertung bewegte sich die Zahl der Sterbefälle bei den über 65-Jährigen großteils im Prognosebereich.

Erst Anfang März – und damit erstmals seit der Herbstwelle – gingen die Todeszahlen wieder knapp über das erwartete Maß hinaus. In der Kalenderwoche 10 vom 7. bis 13. März blieben die Todesfallzahlen samt zugeschätzter Nachmeldungen gerade noch im oberen Bereich der Bandbreite.

Franz Trautinger von der Landesstatistik Wien, der mit Kollegen das Mortalitätsmonitoring herausgibt, verweist darauf, dass die leicht erhöhten Sterbezahlen trotz Ausbleibens einer Grippewelle "nicht mehr vollständig durch Covid erklärbar sind". Warum das so ist, darüber gibt es noch keine gesicherten Daten und Erkenntnisse.

Eine Hypothese ist: Weil Operationen und Vorsorgeuntersuchungen wegen Covid-19-Maßnahmen verschoben wurden, gab es auch mehr Todesopfer. Möglich wäre aber auch, dass Covid-19-Tote nicht mehr so umfassend registriert werden.

Vor allem Ältere gefährdet

Gefährdet sind auch in der Omikron-Welle vor allem ältere Menschen. Drei Viertel der Verstorbenen seit Jahresbeginn waren über 75 Jahre alt, 27,6 Prozent sogar über 90 Jahre. Das Durchschnittsalter lag bei 81 Jahren.

Laut täglicher Meldung der Ministerien sind seit Jahresbeginn 1.846 Menschen an Covid verstorben, in Wien waren es laut Magistrat 385. Was anders ist: Im Vergleich zu bisherigen Virusvarianten sei die Abgrenzung bei Todesfällen schwieriger geworden, heißt es aus dem Büro von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ).

Die Alpha-Mutante habe bei schweren Verläufen in erster Linie Lungenschäden hervorgerufen. "Omikron befällt aber auch deutlich mehr andere Organe. Ob eine Herzmuskelentzündung bei positiven älteren oder immungeschwächten Personen ein direktes oder indirekt ausgelöstes Covid-Leiden ist, ist schwierig zu sagen. Jedenfalls häufen sich diese Fälle", sagt ein Sprecher Hackers.

Die Covid-Todesfälle seien umso bedauerlicher, als viele vermeidbar gewesen wären, bilanziert GÖG-Experte Bachner. Abgesehen von einer strengeren Einhaltung der Hygienemaßnahmen denkt er dabei vor allem an die Impfung, deren Schutzwirkung GÖG-Daten aus dem Jänner eindeutig zeigten: Auf zwei Corona-Tote mit dreifacher Impfung kommen demnach 98 Tote ohne jeglichen Impfschutz. (Gerald John, David Krutzler, 26.3.2022)