Mehr als einen Monat lang tobt der Krieg in der Ukraine schon. Zehn Millionen Menschen sind auf der Flucht, mehr als sechs Millionen davon suchen Schutz innerhalb des Landes. Kateryna Jakowlenko kam jüngst in Wien an. Für die Kuratorin ist es die zweite Flucht. Ursprünglich stammt sie aus Luhansk, der Hauptstadt des seit 2014 umkämpften Donbass-Gebiets im Osten der Ukraine. Die vergangenen acht Jahre lebte die 32-Jährige in Kiew und Irpin.

Dieser Tage machen sich allen voran Frauen und Kinder auf den Weg, die wehrfähigen Männer dürfen nicht ausreisen. Aber auch Ukrainerinnen bleiben zurück – unter ihnen Olena Stiazhkina. Die Historikerin und Autorin sah sich ebenfalls schon 2014 gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Die 54-Jährige stammt aus Donezk. Nachdem Russland Truppen in den Osten entsandt hat, floh sie nach Kiew. Dieses Mal entschied sie zu bleiben.

Lidiia Akryshora stammt aus der Nähe von Czernowitz, die Invasion verfolgt sie von Wien aus. Die 32-Jährige betreut am Institut für die Wissenschaften vom Menschen ein Forschungsprojekt über die Ukraine und ist in der ukrainischen Community in Österreich aktiv, sie organisiert etwa den Ukrainischen Ball. Als der Krieg in ihrer Heimat ausbrach, begann alle drei Frauen, ihre Gedanken und Erlebnisse niederzuschreiben. Eine Auswahl ihrer Beiträge der vergangenen Tage.

Olena Stiazhkina ist in ihrem Zuhause in Kiew geblieben.

Olena Stiazhkina
Foto: Nastya Telikova

Kyiw*, 5. März 2022

Nachdem wir der Hölle von Donetsk entkommen sind, haben wir uns die ersten sechs Monate stets reflexartig auf den Boden geschmissen, sobald wir einen lauten Ton vernommen haben. Nun haben sie, wie es schon Tatusya Bo (ukrainische Kinderbuch-Autorin, Anm.) beschrieben hat, auch an den Toren und Türen der Städte und Orte im Westen Hinweise angebracht, die besagen: "Wir bitten darum, Türen nicht zu fest zuzuschlagen. Hier halten sich Flüchtlinge auf. Sie glauben ansonsten, dass es Explosionen sind."

Nach dem Krieg werden wir alle sehr leise sein. Leise Musik hören, leise Unterhaltungen führen, leise lächeln. Und es wird kein Feuerwerk geben.**

Kyiw, 6. März 2022

Die Menschen verlassen die Stadt. Die Menschen gehen, und wir verabschieden sie und rufen ihnen "Bis zum Sieg!" hinterher. Ich verspüre Verzweiflung, Zorn, Schuld und Angst. Eigenartigerweise verfüge ich zwar nicht über die Ressourcen zu gehen, ein neues Leben anzufangen in einer friedlicheren Region, aber ich verfüge über die Kraft, um zu bleiben und zu kämpfen. Kraft und Ressourcen sind vermutlich zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ich wünsche mir, dass alle gehen können, die das wollen. Und ich möchte mich nicht mehr verabschieden müssen.**

Kyiw, 15. März 2022

Im Notkoffer sollte immer etwas sein, worauf man schreiben kann. Wenn neben dir eine tote Person liegt, ist es noch immer eine Person und keine Leiche. Eine Person muss einen Vornamen, Nachnamen und ein Alter haben. Sie darf nicht verlorengehen. Jemand liebt sie, jemand wartet auf sie. Jemand wird für den Rest des Lebens trauern und sich an sie erinnern. Auch wenn sie keine Dokumente hat, musst du als Hinterbliebener eine Akte erstellen. Beschreibe zumindest ungefähr das Alter, die Körpergröße, die Haarfarbe, die Augen. Denk an die Besonderheiten der Person, gib Auskunft über Kleidung und Schuhe – über etwas, das definitiv dieser Person gehörte. Denk daran, worüber sie sprach, wenn ihr zusammen in einer Notunterkunft gewesen oder einen humanitären Korridor entlanggegangen seid. Namen, Namen von Städten, Namen von Hunden, Lieder ... Vielleicht hat sie ja Lieder gesungen. Erinnere dich und schreib es auf – zweimal. Einmal, um die Infos beim Toten zu hinterlegen: in einer Tasche, hinter einem Gürtel, in einem Schuh. Das zweite Mal, um die Informationen weiterzugeben an die, die für den Staat arbeiten.

Vielleicht kannst du diese Informationen ja auch dreimal aufschreiben, einmal für dich. Nach dem Krieg, für dein Gewissen und für die Arbeit, die getan werden muss, damit der, den du tot gesehen hast, nicht vergessen und anonym bleibt.

Kyiw, 17. März 2022

Seit 2014 ist es in der Ukraine üblich, Soldaten zu danken, die den Vormarsch des Feindes im Osten gestoppt haben. Das geht ganz einfach: Sieht man einen Soldaten auf der Straße, legt man die rechte Hand auf sein Herz und sagt mal laut, mal flüsternd: "Danke!" Ich möchte nicht lügen, das macht man nicht überall, aber die aufs Herz gelegte Hand ist eine Sprache, die von allen Ukrainern verstanden wird. Seit 2014 begleiten wir auf Knien unsere Helden auf ihrer letzten Reise.

Wenn der Trauerzug in die Stadt oder ins Dorf führt, knien auf beiden Seiten der Straße Menschen, die den Verstorbenen möglicherweise auch gar nicht kannten. Das ist überall so – ohne Ausnahme.

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Wir verlieren und verstecken die Besten. Moskowia (abwertende Bezeichnung für das mittelalterliche Fürstentum Moskau, Anm.) schickt seine hierher zum Müll wegbringen. Abgehörte Gespräche zwischen Russen und ihren Müttern und Ehefrauen sind eine nukleare Mischung aus dummer Grausamkeit ("Uns wurde gesagt, wir sollen auf Zivilisten schießen"), schrecklicher Feigheit und kompletter Leugnung der Werte des Lebens. Einschließlich der eigenen. Keine einzige Mutter oder Ehefrau hat gesagt: "Sei kein Mörder, lauf weg, Sohn!" Jede Zweite hat aber geraten, "die Ukraine früher fertigzumachen", und fragte sich, wie viel Geld der Killer von der "Spezialoperation" mitbringen würde.

Heute sprach Arnold Schwarzenegger zu den Russen. Eine gute und vernünftige Botschaft, in der er sagte, dass die Russen in Wahrheit gar nicht so sind, sie werden nur von den Behörden getäuscht und sollen aufwachen. Dieser guten Rede liegt aber ein Missverständnis zugrunde. Die ganze Welt hält die Russen weiterhin für Menschen. Das stimmt aber nicht. Es war trotzdem gut, es zu versuchen. Danke, Herr Arnold.

Kyiw, 22. März 2022

Beim morgendlichen Anruf fragen wir uns gegenseitig: "Lebst du noch?" Und es ist eine Dummheit, für die man in Friedenszeiten eine Ohrfeige bekommen hätte. Denn wenn ich den Hörer abnehme und "Hallo" sage, dann bin ich natürlich am Leben. Aber jetzt zu fragen: "Wie geht’s dir?" – das wäre einfach eine Verhöhnung des gesunden Verstandes.

Also ist ein "Lebst du noch? angemessener und besser. Heute haben wir eine philologische Diskussion darüber gestartet, "wie man diese dumme Frage richtig beantwortet". Die möglichen Antworten: "noch, ja", "wieder", "Du lebst auch noch", "natürlich", "der Armee oder Gott sei Dank" (was im Prinzip jetzt dasselbe ist).

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Heute ist Polizeistunde, seit gestern und bis morgen: das dritte oder vierte Mal in diesem Krieg. Die Freiwilligen nennen die Ausgangssperre "day off": einen Tag, an dem man ein bisschen mehr schlafen und ein bisschen mehr die Nachrichten verfolgen kann. Wenn an den Tagen, an denen man Freiwilligenarbeit leistet, physische Ressourcen verbraucht werden, dann werden während der freien Tage seelische Ressourcen verbraucht. Daher sind die freien Tage nicht wirklich freie Tage. Aber man muss nicht aufstehen, weil der Wecker klingelt.

Es ist Morgen. Der Fliegeralarm ist laut. Mein Mann wacht auf und blickt mit einem dümmlichen, noch müden Blick auf die Uhr. Ich berühre seinen Rücken und sage auf beruhigende Weise: "Hab’ keine Angst, das ist nur der Alarm, nicht der Wecker. Wir können noch schlafen."

Wir lachen beide. Aber wir wissen, dass wir verantwortungslos handeln.

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Die Nachrichten aus (der belagerten Stadt, Anm.) Mariupol, die Bekannte und Journalisten erhalten, sind schlimmer als die Blockade-Tagebücher (der Russin Tania Savicheva im Zweiten Weltkrieg, Anm.):

"Sagt allen, dass es im dritten Stock im Haus gegenüber in der Wohnung Nr. 27 noch Getreide gibt."

"Im neunten Stock sind noch zwei alte Leute. Vorgestern waren sie noch am Leben."

"Ich kann nicht noch ein Kind im Auto mitnehmen. Verzeiht mir. Ich kann mir das selbst nicht verzeihen."

"Wir wissen nicht, in welchem Land wir aus dem Keller kommen werden. Es macht nur dann Sinn zu leben, wenn es die Ukraine sein wird."

"Der Hund heißt Matilda. Sie isst mittlerweile alles. Füttert sie bitte und haltet sie von meiner Leiche fern."

* Für Städtenamen benützen alle Frauen die ukrainische Transkription, die seit dem Krieg vermehrt statt der russischen verwendet wird.

** Dieser Text erschien zuvor auf "Eurozine".


Kateryna Jakowlenko ist geflohen, inzwischen in Wien angekommen.

Kateryna Jakowlenko
Foto: Aliona Lobanova

Irpin, 24. Februar bis 4. März 2022

Am zweiten Morgen der russischen Invasion zog ich bei einer Freundin ein. Ich dachte, es wäre einfacher, den Krieg mit jemandem gemeinsam durchzustehen (und ich dachte, der Krieg würde nur drei Tage dauern). Außerdem erschien mir ihr Haus sicherer als meines. Meine Wohnung befindet sich im obersten Stockwerk, die Fenster gehen in alle Richtungen. Also dachte ich, die Chancen, am Leben zu bleiben, sind dort gering, sollte eine Granate einschlagen.

Der Krieg endete nicht nach drei Tagen, und meine Wohnung war auch in der dritten Woche der Verteidigung von Irpin noch nicht abgebrannt.

Tja, ich hätte auch nie gedacht, dass der Bäckerberuf einmal so gefährlich sein kann – bis ich am 26. Februar zwei Stunde für Brot in einer Schlange anstand. "Warum dauert das so lange? Gib uns schon das Brot", rief jemand ein wenig aggressiv in der Schlange. "Schreit nicht! Ihr solltet mir danken. Ich bin aus dem Nachbardorf hierhingefahren, um euch Brot zu backen", sagte der Bäcker. Sein Dorf war zum damaligen Zeitpunkt noch nicht besetzt, aber dort war es schon ziemlich unsicher. Von Zeit zu Zeit hörte man in den lokalen Nachrichten Informationen darüber, dass die Russen zivile Fahrzeuge beschossen.

Der Bäcker ging also ein Risiko ein. Ein paar Tage lang ist er noch weiter in den örtlichen Supermarkt Silpo gefahren, um kostenlos Brot zu backen. Die Mitarbeiter des Supermarkts sagten, dass sie nur noch Lebensmittel für 15 Tage in den Regalen hätten. In örtlichen Telegram-Gruppen wurde geschrieben: Was machen wir mit Mehl, wir brauchen eher einen Bäcker.

Von Kyiw nach Lwiw, 4. bis 9. März 2022

Bis zuletzt wollte ich Kyiw nicht verlassen – ich dachte, dass ich die Stadt betrügen würde, wenn ich sie verlasse. Aber es war keine Möglichkeit mehr zu bleiben. Ich stand auf dem Bahnsteig und wartete auf den dritten offiziellen Evakuierungszug. Aber er kam nicht. Die ersten beiden Züge waren unter starken Beschuss geraten – die Russen versuchten, die Verkehrsinfrastruktur zu beschädigen.

Auf dem Bahnsteig standen nur Frauen, Kinder und deren Hunde und Katzen. Am nächsten Tag haben sie die Züge wieder bombardiert, erneut während der Evakuierung von Frauen und Kindern – es gab dort überhaupt keine Soldaten, nur Zivilisten. Wir flohen unter einer zerstörten Brücke vor den Granaten. Später brachten uns einige freiwillige Kämpfer zum Bahnhof von Kyiw. An einer Kreuzung zwischen Irpin und Kyiw wurde es besser. Du musst durchhalten, Hauptstadt der Heimat! Du wirst durchhalten!

Es fällt schwer, sich das weitere Leben vorzustellen, wenn du zweimal fliehen musstest. Ich habe die Erfahrung zweimal gemacht. Aber Kyiw und Irpin zu verlassen war viel schwieriger, als sich vom Donbass zu verabschieden. Das Bild vom Bahnhof in Kyiw war beängstigend: Menschen mit Rucksäcken und Koffern füllten alle Bahnhofsräume. Kein Zug konnte all diejenigen mitnehmen, die mitfahren wollten. Die Zugfahrer und Schaffner – auch diese Berufe sind gefährlich geworden. Man kann sich kaum vorstellen, wie viel Trauer und Verzweiflung, wie viel Angst sie in den Augen der Menschen gesehen haben.

Lwiw, 9. März 2022

Lwiw/Lemberg – das ist die Stadt, an der sich jeden Tag vor den Waffengeschäften Menschenschlangen bilden. Hier fanden noch keine Kampfhandlungen statt, aber die Menschen wollen helfen. Aber nicht nur der Mut und das dringende Gefühl, das eigene Leben retten zu müssen, hat auf Lemberg abgefärbt, sondern auch die Angst. Denn hier kommen vor allem Ukrainer an, die bereits unter russischem Beschuss standen.

Ich habe hier Tanja getroffen. Einen Tag zuvor stand auch sie unter derselben Brücke in Kyiw, unter der auch ich Schutz gesucht hatte. Die Umarmungen von Menschen, die diesen Schock erlebt haben, sind die stärksten. Wir gingen durch die Straßen von Lemberg und sahen, wie die Stadt ihr Erbe versteckt und schützt – Skulpturen, Kirchen, Ikonen.

Warschau, 11. März 2022

Die Ukrainer am Warschauer Bahnhof erkennt man daran, dass es nur Frauen und Kinder sind, manchmal auch sehr alte Leute. Ihre Ehemänner und Lebensgefährten bleiben zu Hause, und sie warten ebenfalls auf einen Zug – aber eigentlich warten sie auf das Ende des Krieges.

Wien, 2. März 2022

Mein Morgen begann mit Nachrichten darüber, dass die Russen die Ställe in der Nähe meiner Stadt angezündet haben. Mehr als dreißig Pferde sind verbrannt. Wer kann jetzt noch von der Menschlichkeit der Russen sprechen? Mussten Pferde auch entnazifiziert werden?

Das Erste, was ich in Wien gesehen habe, waren ukrainische Flaggen an den Gebäuden im Zentrum und gelb-himmelblaue Beleuchtungen. Es scheint, als stünde die ganze Welt hinter uns. Das ist vielleicht wirklich so, und vielleicht ist es auch eine Inspiration, um zu kämpfen. Aber das ist kein ukrainischer Kampf – es ist der Kampf der Ukraine für die Zukunft der gesamten westlichen Zivilisation. Wir beschützen nicht uns selbst, sondern ganz Europa.

Serhij Ploxij, der Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts in Harvard, hat ein Buch geschrieben, in dem er die Ukraine das "Tor Europas" nannte. Wenn diese Tore plötzlich aufgehen, werden die russischen Plünderer zu jedem Europäer kommen und sich alles nehmen – mitsamt den Unterhosen. In den Nachrichten hieß es, dass ein russischer Oberstleutnant, der vom ukrainischen Geheimdienst erwischt wurde, ukrainische Militärunterwäsche trug. Das Detail zeigt die Grausamkeit der russischen Armee, die alles um sich herum zerstört und keinerlei Gefühle kennt. Sie hinterlassen einfach gar nichts.

Lidiia Akryshora erlebt den Krieg in ihrer Heimat von Wien aus.

Lidiia Akryshora
Foto: Regine Hendrich

Wien, 1. März 2022

Die Frage "Wie geht es dir?" bringt mich durcheinander. Die Frage hat mich schon vor dem Krieg etwa ratlos zurückgelassen. Wir, die Post-Sowjetunion-Generation, tun uns schwer damit, unsere Emotionen einzuordnen und eine gesunde Beziehung zu ihnen zu haben. Aus diesem Grund ist es noch bewundernswerter, wie Ukrainer während der Proteste 2014 und in der jetzigen Situation ihren Gefühlen Ausdruck verliehen haben – und was für ein ukrainisches menschliches Gesicht dieser Krieg hat.

Die Frage "Wie geht es dir?" ist für mich momentan noch schwerer zu beantworten, weil ich sie mir selbst nicht stelle. Aber wenn ich gefragt werde, empfinde ich Wärme und denke mir "Vielen Dank dafür, dass du fragst, und vielen Dank dafür, dass du dich kümmerst!" Also bitte, stell die Frage weiterhin!

Es geht mir ok – ich hasse dieses Wort. Meine Freunde wissen, wenn ich "okay" schreibe, dann geht es mir auch so, und wenn ich "ok" schreibe, dann geht es mir nicht so gut. Aber so geht es mir momentan eben. Mir geht es ok. An einem Sonntag, einige Tage nach Kriegsbeginn, bin ich selbst davor erschrocken, wie rational und ruhig ich war. Ich hatte Sorge, bald zusammenzubrechen. Aber es ist ok. Morgens zu weinen hilft, um den Tag rational zu überstehen. Es ist nämlich wichtig, Vernunft zu bewahren. Ich komme unter Tags kaum zum Nachdenken, weil ständig für irgendetwas Hilfe gebraucht wird. Etwas zu tun hilft gegen das Gefühl von Frustration, Wut, Enttäuschung. Vielleicht ist das auch eine Art Bewältigungsstrategie, um sich nicht mit der katastrophalen Lage in meiner so geliebten, so tapferen, so freiheitsliebenden und unabhängigen Ukraine befassen zu müssen.

Wien, 8. März 2022

Als ich abends todmüde heimkomme und zwischen der Chat-Kommunikation und dem ständigen Fluss an Informationen irgendwie versuche, Schutzausrüstungen, Helme und andere Güter aufzustellen, zu kaufen und in die Ukraine zu schicken, schreibt mir meine Cousine auf meine Frage, wie es ihm geht, "Lidochka, die Sirenen heulen, ich sitze in der Badewanne. Dann versuche ich mir das Bild vorzustellen: Wie sieht so eine Situation aus? Wie fühlt sie sich an?

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Mein Morgen beginnt jeden Tag damit, dass ich meine Freunde in der Ukraine durchrufe: "Wie war die Nacht?", frage ich dann in der Hoffnung, dass ihre Stimmung und ihr Gemütszustand gut sind. Ich hoffe zumindest, dass sie ein wenig schlafen konnten, weil die Nacht zuvor keine Sirenen losgingen. Ein Freund schreibt mir tatsächlich "Habe endlich einmal wieder geschlafen", ein anderer "Bin ohne Schlafmittel eingeschlafen", und ich spüre die Erleichterung und Freude durch den Handybildschirm hindurch.

Ich lese ununterbrochen die Nachrichten. Es fühlt sich an, als würden sie mich verrückt machen, aber ich würde sicher noch verrückter werden, wenn ich die Nachrichten nicht lesen würde. Die Nachrichten zu verfolgen gibt einem das Gefühl von Kontrolle. Es täuscht einem vor, dass man verhindern kann, dass Menschen sterben und Bomben vom Himmel fallen. Es ist natürlich eine Illusion, der Krieg ist da, er ist nahe, und er gibt einem diese Möglichkeit von Einfluss nicht. Der Krieg richtet sich gegen uns alle. Ich habe die vergangenen Tage über kaum gelacht. Ich fühle entweder Ruhe oder einen tiefen Schmerz, der nicht vergeht. Meist verspüre ich ihn abends, er droht dann alles in mir zu zerstören.

Wien, 19. März 2022

Ich weiß nicht, was schlimmer ist: wenn es einem unglaublich wehtut oder wenn man gar nichts fühlt. Psychologen sagen, dass Gleichgültigkeit ein guter Reaktionsmechanismus der Psyche auf Schlechtes ist. Weil es zeigt, dass man sich vom Bösen distanziert. Erst vor einigen Tagen habe ich einen weit in die Zukunft gerichteten Plan geschmiedet – einen Plan für den Sommer.

"Freundin, es ist okay, lass uns durchhalten. Wir sehen uns im Sommer und bauen unser geliebtes Kyiw wieder auf, nicht wahr?" Das sagte mir Katja am Telefon mit einer selbstbewussten Hoffnung – obwohl wir beide seit acht Jahren nicht mehr in Kyiw leben. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben in ihrer schönen, freudigen Stimme so viel Verzweiflung, Unsicherheit Sorge gehört.

Katja hat mich das auf Russisch gefragt. Bis zum Krieg fiel es mir nie besonders auf, wenn sie Russisch sprach. Doch jetzt treibt mir der Gedanke an die russischen Propagandamärchen von der Denazifizierung eine stählerne Kälte ins Gesicht. Mir kommt vor, dass meine Mundwinkel noch nie so lange so tief herunterhingen. Tja, was soll man sagen, mir hat auch noch nie im Leben etwas so sehr wehgetan.

Die russische Sprache fällt mir nun vielleicht aus dem Grund so sehr auf, weil sie mich an eine andere Katja erinnerte, meine Freundin aus Dnipro. Vor einigen Tagen hat sie mir unter Tränen eine Nachricht geschrieben, dass ein Geschoss ihr Haus getroffen hat und dass es davor keinen Fliegeralarm gegeben hatte. Das Gespräch dauert 20 Minuten, und es kam mir vor, wie die längsten 20 Minuten in meinem Leben. Eine Wand in ihrer Küche wurde zerstört und die beruhigenden Worte ihrer kleinen Schwester lauteten: "Macht nichts, die Wand bauen wir wieder auf. Das Wichtigste ist, dass wir am Leben geblieben sind." Wie traurig, dass eine Zehnjährige so schnell erwachsen werden musste. Katja sagte, dass sie so voller Angst war, dass sie beschloss, als allererstes mir zu schreiben, damit ich der Welt davon erzählen kann, sollte ihnen etwas geschehen.

Und was sagt die Welt dazu?

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Ich zwinge mich dazu, die Geschichten von den Orten des Geschehens und die Augenzeugenberichte zu lesen. Ich will das natürlich nicht. Aber ich bemühe mich, alle zu lesen. Nadja Suchorukowa, eine Journalistin aus Mariupol, war 20 Tage in der Stadt, und es ist ihr gelungen, evakuiert zu werden. Aus der Stadt "in der alle auf den Tod warten, wo sogar der Wind gestorben ist", wie sie schreibt.

"Ich kann nicht aufhören zu weinen", schreibt mir meine Freundin, als sie ihre Berichte gelesen hat.

Ich auch nicht. Und jeder Mensch, der bei vollem Bewusstsein ist, kann das nicht. Aber ich lese trotzdem weiter – bewusst, um zu wissen, warum ich nicht aufgebe und nie aufgeben werde.

Es ist immer einfacher, sich das ganze Ausmaß vorzustellen, wenn man Vergleiche heranzieht mit etwas, das man liebt. Meine kleine Stadt in den Bergen, aus der ich stamme und die ich sehr liebe, hat ungefähr 5.000 Einwohner. Mariupol – diese wunderschöne Hafenstadt in der Südukraine – hat etwa 450.000 Einwohner, ist also dreimal so groß wie Salzburg. Trotz pausenloser Bombardierung ist es fast 30.000 Menschen gelungen zu fliehen. Also gibt es schon für zwei Salzburgs keinen Tag und keine Nacht mit normalem Leben mehr. Meist herrscht dort Dunkelheit und eventuell mal eine zehnminütige Pausen zwischen den Luftangriffen, für die man mal nach draußen kann. Bitte, denkt immer daran, wenn euch die Idee eines Versuchs von Friedensverhandlungen zwischen Ukrainern und Russen und der Ruf nach sofortigem Frieden in den Sinn kommt. Mir scheint, es gibt wohl keine Nation auf der Welt, die sich momentan nichts mehr wünscht, als einfach einen friedlichen Himmel über dem Kopf zu haben.

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Knapp einen Monat nach Kriegsbeginn verspüre ich den Wunsch, etwas zu tun – ich habe einen kleinen Ficus aus dem Regal geholt und auf den Nachttisch neben mein Bett gestellt. Auf dem Ficus wächst ein neues Blatt. Und an jedem Morgen schaue ich drauf und sehe, wie das Leben wächst. Ich erinnere mich an die Freundin, die mir geholfen hat, ihn vor dem Krieg umzutopfen. Sie war bei mir in den ersten dunklen Tagen, als alles schrecklich erschien. Ich erinnere mich daran, wie sie damals sagte: "Du bist so stark." Und ich werde noch stärker sein. (Anna Giulia Fink, Übersetzung: Markus Bingel, 26.3.2022)