Sechs Stunden lang rechnete Markus Kienasts Computer. Fünf Milliarden mögliche Wahlergebnisse in Groß Gerungs spielte das eigens geschriebene Programm durch. Und die stärkste Partei stieg bei der Besetzung der Stadtregierung in jedem der fünf Milliarden Szenarien gut aus: Sie erhielt nie weniger Sitze, als ihr nach den Prozenten des Wahlergebnisses zustehen würden. Die kleineren Parteien wurden dagegen meistens abgerundet. Das Gesetz in Niederösterreich will es so. Aber Markus Kienast akzeptiert das nicht.

100 Prozent der Stadträte für die ÖVP? Das wollte Bürgerlistenchef Markus Kienast nicht auf sich sitzen lassen.
Foto: christian fischer

Kienast führt die kleine Bürgerliste Germs an und wirbelt ganz schön Staub auf – in der Waldviertel-Stadt und in ganz Niederösterreich. Sein Einspruch gegen die Wahl der Stadtregierung schaffte es in die Schlagzeilen und in die Landespolitik. Der Unternehmer hielt das Prozedere für die Stadtratswahl in Niederösterreich für ungesetzlich. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) gab ihm Recht.

Und wenn das Höchstgericht auch seiner jüngsten Beschwerde folgt, dann könnten im ganzen Bundesland einige schwarze Hochburgen bröckeln.

Waldviertel im Winterschlaf

Groß Gerungs ist eine 4500-Einwohner-Stadt im nördlichen Waldviertel. Hier ist die Welt besonders düster oder noch in Ordnung – je nachdem, wen man fragt. Der ÖVP-Bürgermeister war fast 28 Jahre lang im Amt, als er sich vor zwei Wochen in den Ruhestand begab. Er regierte mit einer sehr bequemen Mehrheit, die er im Verlauf seiner Amtszeit von knapp mehr als 60 Prozent auf aktuell 68 Prozent ausbaute. Die Bevölkerungsgröße der Gemeinde schrumpft, aber nur ganz langsam. Im Zentrum stehen ein Spar und ein Bipa, beide haben Parkplätze, größer als der frisch renovierte Hauptplatz.

Die kleine Stadt im Waldviertel zählt 4.500 Einwohnerinnen und Einwohner. Parkplätze gibt es genug.
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"Das Waldviertel ist wirklich in einem politischen Winterschlaf gefangen", sagt Kienast. Er kennt die typische Politikstruktur der Region: satte ÖVP-Mehrheiten, wenig Bewegung. Sich politisch zu engagieren, sah der 44-Jährige als seine "Bürgerpflicht". Deswegen gründete er kurz vor der Gemeinderatswahl seine Bürgerliste.

Viele Skandale

Seitdem stiftet Kienast vor allem Unruhe. Ein guter Teil der Artikel im Archiv der Niederösterreichischen Nachrichten handelt davon, dass Kienast jemanden angezeigt, Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt oder einen Eklat bei einer Gemeinderatssitzung verursacht hat. "Versteinerte Strukturen kann man nicht aufbrechen, indem man sich anbiedert und schaut, dass man mit jedem Freund ist", sagt er. Dass er dann von manchen als Wichtigtuer wahrgenommen wird, nimmt er in Kauf.

Kienast ortet viele Skandale in Groß Gerungs. An einigen ist nicht viel dran. Aber bei der Stadtratswahl hat er ins Schwarze getroffen.

Nach der Gemeinderatswahl 2020 wählte das neue Stadtparlament die Stadtregierung. Es herrscht Proporz: Die Kräfteverhältnisse bei der Wahl sollen auch in der Regierung abgebildet werden. "Nach dem Verhältnis der Parteisummen", stand damals in der Gemeindeordnung. Das zu bestimmen ist aber gar nicht so einfach: Bekommt eine Partei mit 19 Prozent zum Beispiel einen von fünf Sitzen? Muss dafür eine Partei mit 40 Prozent auf einen der zwei Plätze verzichten, der ihr rechnerisch zustehen würden?

Ein belgischer Jurist und sein Verfahren

Die Antworten auf diese Fragen gibt in Österreich üblicherweise ein belgischer Jurist namens Victor D’Hondt: Er hat 1878 ein Verfahren entwickelt, um genau solche Herausforderungen zu klären. Das D’Hondt’sche Verfahren wird bei Nationalratswahlen angewandt, bei Proporz-Landesregierungen – und eben auch bei Stadtratswahlen.

In Groß Gerungs zeigte sich aber die größte Schwäche der Methode: Sie ist besonders bei wenigen zu vergebenden Sitzen sehr vorteilhaft für die Mehrheitspartei. So geschah es, dass die Groß Gerungser Volkspartei mit 68 Prozent fünf von fünf Stadtratssitzen erhielt: hundert Prozent.

Vorteil für Große

Das kann bei D’Hondt passieren, wenn es eine sehr große und mehrere kleine Parteien gibt. Denn die Stimmenzahl jeder Partei wird bei fünf Sitzen durch eins, zwei, drei, vier und fünf dividiert. Die fünf größten Zahlen in dieser Tabelle werden ermittelt, jede von ihnen bedeutet einen Sitz. Das Besondere in Groß Gerungs: Das kleinste Divisionsergebnis der ÖVP war immer noch größer als das beste Ergebnis der nächsten Partei.

Eine ÖVP-Alleinregierung mit 68 Prozent der Stimmen? Niemand hat erwartet, dass Kienast das auf sich sitzen lässt. Er schaute ins Gesetz . Und da steht nichts von D’Hondt – sondern eben nur: "Nach dem Verhältnis der Parteisummen."

In Groß Gerungs zeigte sich die große Schwäche des D'Hondt'schen Verfahrens.
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Was macht man als streitlustiger Lokalpolitiker? Man zieht vor den VfGH – und hinterfragt, ob nicht sämtliche niederösterreichischen Stadträte der Zweiten Republik ohne gesetzliche Grundlage besetzt worden sind.

Das Höchstgericht gab Kienast Recht: Es gab in Niederösterreich keine gesetzliche Grundlage für die Anwendung des D’Hondt’schen Verfahrens bei Stadtratswahlen. In Groß Gerungs hätten FPÖ und SPÖ je einen Sitz in der Stadtregierung erhalten müssen. Der Gemeinderat musste innerhalb von zwei Wochen einen neuen Stadtrat wählen, diesmal mit etwas mehr Diversität.

Verzögerte Neuwahl

Die Landespolitik versetzte das in helle Aufregung. Groß Gerungs ist schließlich nicht die einzige Stadt im Land mit einer satten schwarzen Mehrheit – und sehr schwarzen Stadtregierungen. Die Gemeindeordnung wurde eilig novelliert: Nun steht D’Hondt auch im Gesetz.

Doch dann passierte wieder etwas. Die Wahl wurde nicht innerhalb von zwei Wochen wiederholt – sondern erst, nachdem das neue Gesetz in Kraft getreten war. Das Land lockerte damals die Fristen, um Gemeinden in der ersten Corona-Welle Spielraum zu verschaffen. Kienast sagt, der Bürgermeister habe die Neuwahl womöglich verschleppt, um wieder fünf ÖVP-Stadträte wählen zu können; der Ortschef sagt, Corona habe die Sache verzögert. Jedenfalls wurde der Stadtrat wieder nach D’Hondt gewählt.

Die Sache war dann aber eh hinfällig. Denn Kienast zog wieder vor den VfGH. Und der gab ihm wieder Recht: Weil die Wahl der Stadtregierung noch nach den Regeln von Anfang 2020 abgehalten werden hätte müssen. Also wieder eine Neuwahl im Gemeinderat. Jetzt ist es so: Die ÖVP stellt drei Stadträte, FPÖ und SPÖ je einen.

Leichen und Fäkalien

Für Kienast hat es sich ausgezahlt: Weil seine Bürgerliste die Beschwerde gemeinsam mit den Freiheitlichen eingebracht hat, teilen sie sich den Regierungssitz. Kienast macht den Job die erste Hälfte der Periode, sein FPÖ-Kollege übernimmt danach.

Als Dank erhielt Kienast die Zuständigkeit für Leichen und Fäkalien. Der vor kurzem abgetretene Bürgermeister Maximilian Igelsböck übertrug ihm die Agenden für Friedhöfe, Leichenhallen und Abwasserbeseitigung. "Der hat jetzt Arbeit", sagt Igelsböck.

Wenige Tage nach seinem Rücktritt sitzt Igelsböck in einem Büro, das nicht mehr seines ist, neben dessen Tür aber immer noch sein Name steht. 28 Jahre im Amt werden halt nicht so schnell vergessen.

Kienast werde sich jetzt "ein bissl schwertun, nur anzuprangern – jetzt muss etwas bewiesen werden." Dass die beiden keine hohe Meinung voneinander haben, ist offensichtlich. Keiner von ihnen nimmt während des Gesprächs mit dem STANDARD den Namen des anderen in den Mund.

Maximilian Igelsböck macht keinen Hehl daraus, dass er von Kienast nicht viel hält.
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Grundsätzlich, sagt der Altbürgermeister, gebe es keine Streit-Exzesse im politischen Groß Gerungs. "Wenn man etwas schaffen will, braucht man – auch trotz einer deutlichen Mehrheit – die Einbindung aller politschen Gruppen", sagt Igelsböck. Das Verhältnis zur FPÖ, die ja mit Kienast kollaborierte, sei beschädigt – aber das werde schon wieder. Bei der Germs scheint er sich da nicht so sicher. Aber Igelsböck glaubt ohnehin: Die Bürgerliste wird sich bei der nächsten Wahl von alleine erledigen. Die Leute wollten Ergebnisse sehen. Und "bis jetzt ist eigentlich noch kein einziger konstruktiver Vorschlag gekommen – sondern nur: dagegen."

Die Sache mit der Stadtratswahl sei natürlich unerfreulich gewesen. "Da braucht man schon gute Nerven, ein gutes Standing, um das Schiff auf Kurs zu halten – natürlich auch in den eigenen Reihen", lässt Igelsböck anklingen, dass das auch innerhalb seiner Partei für Unmut gesorgt hat. Immerhin haben zwei Schwarze ihre Stadtratsposten verloren. "Aber es ist absolut gelungen."

Geschasste Stadträtin

Verteidigerinnen mehrheitsfördernder Systeme führen oft ins Treffen, dass eine Partei mit einer angenehmen Mehrheit besser arbeiten kann. Dass es auch intern nicht immer so harmonisch zugeht, kann Helga Floh erzählen. Seit einem Nahtoderlebnis nach einem schweren Sturz lässt sie sich nichts mehr gefallen, erzählt sie. Deshalb erzählt sie offen, wie sie – in ihrer Darstellung – von der eigenen Partei aus der Regierung gedrängt worden sei.

1984 wurde sie von der ÖVP in die Gemeindepolitik geholt, sie sei ja immer schon "eine Tiefschwarze" gewesen. Später stieg sie zur Kulturstadträtin auf. "Durch mein Können bin ich in Gerungs sehr beliebt geworden. Das war das Gefährlichste, was mir passieren konnte."

Helga Floh war erfolgreiche Kultur-Stadträtin in Groß Gerungs. Dann sei der interne Druck auf sie immer größer geworden, erzählt sie.
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Anfangs habe sie der Bürgermeister sehr geschätzt. Doch "der Neid wurde immer größer, und ich wurde ziemlich hinuntergemacht. Von höchster Stelle", sagt Floh – Namen will sie nicht nennen. Der Druck sei dann immer größer geworden. "Und zwar deshalb, weil man vermutet hat, dass ich Bürgermeisterin werden will." Dabei hätte sie das nie gewollt, sagt Floh. Igelsböck hält das auf Nachfrage für so lächerlich, dass er keinen Kommentar abgeben will.

Zuletzt sei sie bei ihren Parteifreunden auch wegen einer vermeintlichen familiären Verbindung ins Zwielicht geraten: Ihr Schwiegersohn heißt ebenfalls Kienast, ist aber nicht mit dem Bürgerlistenchef verwandt. Als Markus Kienast 2019 seine Bürgerliste gründete, "habe ich dem Markus dann sogar zugeredet". Sie schätzt den Germs-Chef und seinen Kampf gegen D’Hondt.

Nun könnte Ruhe in Groß Gerungs einkehren – theoretisch. Nach der kommenden Gemeinderatswahl im Jahr 2025 wird der Stadtrat wieder mittels D’Hondt besetzt. Die eine Periode mit der minderheitenfreundlich gewählten Stadtregierung wird eine historische Anomalie.

Nun soll D'Hondt ganz fallen

Freilich nicht, wenn es nach Kienast geht. Er pant schon die nächste Beschwerde beim VfGH: Er hält nämlich das D’Hondt’sche Verfahren bei Stadträten insgesamt für verfassungswidrig – auch, wenn es im Gesetz steht. Weil D’Hondt so stark mehrheitsfördernd wirkt, widerspreche dieses System dem Gleichheitsgrundsatz.

Die niederösterreichische Volkspartei wollte jedenfalls wegen Groß Gerungs auf Nummer sicher gehen: Auch die Besetzung der Landesregierung wird nach dem D’Hondt’schen Verfahren bestimmt. Hier stand dieser Mechanismus ebenfalls nicht explizit im Gesetz, auch hier wirkt er mehrheitsfördernd – meist zugunsten der ÖVP. Das hat der Landtag auf Betreiben der ÖVP jetzt fixiert und D’Hondt ins Gesetz geschrieben – die Volkspartei will auch nach der Landtagswahl 2023 nicht auf einen Mehrheitsbonus in der Landesregierung verzichten.

Gut möglich also, dass Markus Kienast in ein paar Monaten wieder die Landespolitik vor sich hertreibt – und vielleicht sogar Sitzverteilungen in ganz Österreich verändert. (Sebastian Fellner, 27.3.2022)