"Die Kritik an kultureller Aneignung denkt den Zeichengebrauch häufig viel zu unflexibel und zu undifferenziert", sagt der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner im Gastkommentar.

Musikerin Ronja Maltzahn wurde wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen. In einem Instagram-Video sagt sie, Fridays for Future Hannover habe sich für den Tonfall entschuldigt – man will miteinander reden.
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Die Ansage von Fridays for Future Hannover, die Musikerin Ronja Maltzahn dürfe gerne beim Klimaprotest auftreten, wenn sie sich vorher die Haare schneide, wirkt reichlich skurril. Der Zensurvorwurf, der verlässlich in den gegenwärtigen Debatten um Identitätspolitiken und Cancel-Culture erhoben wird, war erwartbar. Doch auch wenn die Empörung über die Ausladung im konkreten Fall gerechtfertigt sein mag – sie macht es sich zu einfach.

Die Umweltaktivistinnen und -aktivisten hatten die Sängerin ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt. Als Person mit weißer Hautfarbe, so das Argument, eigne sie sich dadurch Elemente einer anderen Kultur an, "ohne die systematische Unterdrückung dahinter zu erleben". Auch wenn Fälle wie dieser erst in den letzten Jahren häufiger auftreten, neu ist der Vorwurf der kulturellen Aneignung nicht. Die kürzlich verstorbene Kulturwissenschafterin bell hooks hatte ihn beispielsweise schon 1995 gegenüber einem weißen Kollegen – Robert Farris Thompson – erhoben, der sich als Spezialist für afrikanische und afroamerikanische Kunst profiliert hatte.

Die konkreten Anlässe für den Vorwurf der kulturellen Aneignung, wie Dreadlocks bei Weißen oder das Indianerkostüm im Fasching, wirken oft läppisch. Die meisten Dreadlockträgerinnen und -träger und Faschingsindigenen meinen es ja nicht böse, wird außerdem argumentiert. Aber bell hooks' Kritik am systematischen Profit ihres Kollegen deutet schon an, dass es um individuelle Intentionen gar nicht geht. Frisuren sind wie andere Gesten und Gewohnheiten kulturelle Zeichen. Als solche erhalten sie ihre Bedeutung durch den historischen Kontext ihres Gebrauchs.

Einfache Formel

Was die Zeichen bedeuten, ist zwar veränderbar, aber weder beliebig noch individuell zu bestimmen. "Ich verwende dieses Hakenkreuz nur als Sonnensymbol!", damit käme wohl niemand durch. Auch wer angibt, Dreadlocks aus rein ästhetischen Gründen zu tragen, leugnet deren semiotische Signifikanz. Denn, und darauf zielt der Hinweis auf die erlebte Unterdrückung, die Dreadlocks werden als Teil "Schwarzer Kultur" interpretiert, die seit Jahrhunderten ausgebeutet wird.

Die einfachste Formel, mit der die prinzipielle Legitimität der Kritik an kultureller Aneignung deutlich gemacht werden kann, findet sich im Titel eines Buches. Sie lautet: "Everything but the Burden". Der vom Kulturwissenschafter und Journalisten Greg Tate herausgegebene Sammelband geht der Frage nach, was Weiße von kulturellen Praktiken, die ursprünglich in Schwarzen Communitys der USA entwickelt und gelebt worden sind, übernommen haben. Alles außer der Bürde, in einer weiß dominierten Gesellschaft Schwarz zu sein, ist die Antwort. Jazz und Hip-Hop, Sprinttechniken und Dichtkunst, Humor und basisdemokratische Mobilisierungsformen in sozialen Bewegungen – aus allen Bereichen Schwarzen Schaffens haben weiße Menschen geschöpft, um ihr eigenes Ansehen und ihren eigenen Besitz aufzuwerten.

Soziale Ungleichheit

Wenn auch der Rassismus nicht mehr der gleiche ist wie noch in den 1960er-Jahren, die auf rassifizierten Zuschreibungen basierende soziale Ungleichheit ist geblieben. Diese Ungerechtigkeit, alles an kulturellen Bräuchen und sozialen Errungenschaften genommen zu haben, ohne jenen, denen es zugestanden hätte, etwas zu geben, ist der Ursprung der Kritik an kultureller Aneignung. Ähnlich argumentieren gegenwärtig indigene Frauen in Mexiko und Guatemala, die kritisieren, dass die Muster ihrer in stundenlanger Arbeit gestickten Kleider von transnationalen Modekonzernen kopiert und profitabel ausgeschlachtet werden. Sich an all dem nicht beteiligen zu wollen, das kann man also Fridays for Future durchaus zugutehalten.

Trotzdem ist die Ausladung problematisch, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens zeigt schon das Beispiel der Swastika, dass Kultur überhaupt nur als permanentes Vermischen existieren kann. Selbst Reinheitsfanatiker wie die Nazis bedienten sich aus "nichtgermanischen" Zeichenrepertoires. Diese Mischformen verhindern zu wollen und Zeichen und ihren Gebrauch festzuschreiben kann nur zu rigiden Handlungsnormen führen. Es beruht zweitens auf einer essenzialistischen Auffassung von Gruppenzugehörigkeit und menschlicher Praxis: Es wird unterstellt, es gebe eine wesenhafte Verbindung zwischen Haar, Haut und Handlung.

Unflexibel und undifferenziert

Die Kritik an kultureller Aneignung denkt den Zeichengebrauch häufig viel zu unflexibel und zu undifferenziert. Unflexibel, weil sie davon ausgeht, dass sich kulturelle Symbole wie Dreadlocks eindeutig verorten lassen. Aber nicht nur die meist Schwarzen Anhängerinnen und Anhänger der christlichen Rastafari-Sekte tragen sie – deren Sexismus übrigens ein anderes Kapitel ist, das die positive Bezugnahme zusätzlich verkompliziert. Auch indische Sadhu-Mönche lassen sich ihre Haare verfilzen.

Und nicht zuletzt gibt es eine Geschichte subkulturellen Aufgreifens. Seit den 1970er-Jahren waren Dreadlocks wie auch der Irokesenschnitt der Punks ebenso Ausdruck eines Nicht-Einverständnisses mit den Normen der westlichen Dominanzkultur. Undifferenziert ist die Kritik häufig, weil sie zwischen den Dreadlocks und Iros bei weißen Musikerinnen wie Musikern und der Ausbeutung transnationaler Konzerne nicht mehr zu unterscheiden weiß. Nicht jede Aneignung sichert Profite, nicht einmal symbolisches Kapital ist dabei immer zu holen.

Mehr Gelassenheit

Die Kulturwissenschafterin bell hooks schrieb über den scharf kritisierten, weißen Kollegen übrigens auch, seine kunsthistorischen Errungenschaften seien unbestreitbar. Zweifellos würde sie sich mit ihm gemeinsam auf ein Podium setzen. Diese Gelassenheit täte wohl auch der gegenwärtigen Debatte ganz gut. Aber die Bereitschaft zur Auseinandersetzung würde allen Beteiligten mehr abverlangen, als einfach Konzerte abzusagen – oder sich reflexartig über angebliche "Zensur" zu empören. (Jens Kastner, 27.3.2022)