Pamela Rendi-Wagner betritt die Aula der Wissenschaften im Kreise von fünf ehemaligen SPÖ-Kanzlern. An ihrer Seite sind Franz Vranitzky, Viktor Klima, Alfred Gusenbauer, Werner Faymann und Christian Kern. Rendi-Wagner streicht Vranitzky über den Rücken, fasst Klima am Arm, klopft Gusenbauer auf die Schulter. Wer es jetzt noch nicht verstanden hat: Sie ist sehr vertraut mit diesem Kreis, sie gehört dazu. Bald auch als sozialdemokratische Kanzlerin, ist gemeint, diesen Anspruch wird sie in wenigen Minuten stellen.
Erst umarmt sie noch Heinz Fischer, den ehemaligen Bundespräsidenten, küsst Michael Ludwig, den Wiener Bürgermeister, auf beide Wangen. Das alles unter dem anhaltenden Applaus von etwa 120 handverlesenen und jedenfalls sozialdemokratischen Gästen. Dass tatsächlich alle ehemaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler gemeinsam bei einer Veranstaltung sind – das erste Mal, wie Rendi-Wagner betonen wird –, sei indirekt ihr Verdienst: Offensichtlich habe es eine Frau gebraucht, diese Runde so zusammenzubringen. Es ist der einzige Lacher, den sie in einer sonst sehr staatstragend inszenierten Rede generiert.

Die SPÖ-Vorsitzende spricht ohne Anlass, der Titel der Veranstaltung lautet: "Ein Land. Eine gemeinsame Zukunft." Es ist die Kanzlerinnenrede. Auf der Bühne spricht Rendi-Wagner davon, dass es jetzt fünf Jahre ohne Sozialdemokratie in der Regierung seien. "Fünf Jahre klingen nicht viel. Aber es sind fünf verlorene Jahre."
Es mache einen Unterschied, wer regiert. "Immer dann, wenn andere einen Scherbenhaufen hinterlassen haben, haben wir diesen beseitigt, haben wir die Gesellschaft zusammengeführt, haben das Land nach vorne gebracht und modernisiert, haben das Ansehen unseres Landes gestärkt", sagt Rendi-Wagner und steuert auf den ersten Höhepunkt ihrer Ansprache zu. "Und wir werden es wieder tun. Wir werden diesen Scherbenhaufen beseitigen. Und wieder wird sich zeigen: Es macht einen Unterschied, wer regiert. Es ist Zeit für den nächsten sozialdemokratischen Bundeskanzler. Oder um genauer zu sein – es ist Zeit für die erste sozialdemokratische Bundeskanzlerin."
Respekt für den ukrainischen Botschafter
Unter den Gästen ist auch der ukrainische Botschafter in Wien. Bei seiner Begrüßung erheben sich alle Anwesenden im Saal. Österreich werde seinen Beitrag leisten, versichert Rendi-Wagner dem Botschafter, man beteilige sich an den Sanktionen, Österreich leiste Hilfe. Womit das erste große inhaltliche Thema der Rede angesprochen ist: die Neutralität. Die SPÖ-Chefin spricht ein klares Bekenntnis zur Neutralität aus und kritisiert alle jene, die diese infrage stellen. Ganz klar spricht sie dabei die ÖVP an. Dass Kanzler Karl Nehammer unlängst die Neutralität außer Streit gestellt hat, erwähnt sie nicht.
Österreich stehe jedenfalls klar an der Seite der Ukraine, macht Rendi-Wagner klar. Österreich schweige nicht. "Denn Recht muss Recht bleiben – unabhängig von der Stärke des Gegners." Die Gewalt müsse aufhören, dieser Krieg müsse aufhören. "Der militärische Überfall Russlands auf die Ukraine ist aber nicht nur ein Angriffskrieg auf ein freies Land. Er ist auch eine frontale Attacke auf die Konzepte von Frieden und Sicherheit, von Zusammenarbeit und Völkerverständigung, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa aufgebaut, gelebt und in Institutionen abgesichert wurden."
Starkes Bundesheer
Neutralität bedeute nicht, gesinnungsneutral zu sein, versichert Rendi-Wagner. Derzeit werde wieder über Sicherheitspolitik diskutiert. "Österreich hat keine militärische Macht. Unsere Stärke ist die Dialogfähigkeit", sagt sie. Rhetorisch stellt sie die Frage: Soll Österreich der Nato beitreten? Nein.
Rendi-Wagner bekennt sich in Folge ganz klar zum Bundesheer und auch zu einer Stärkung desselben: "Wer Freiheit und Demokratie verteidigen will, darf nicht wehrlos sein." Das Bundesheer müsse so ausgestattet sein, dass es in der Lage ist, die Neutralität und die Souveränität auch zu verteidigen. Das sei derzeit nicht der Fall. "Daher Ja zu einer effizienten Landesverteidigung. Ja zu all den Kräften, die unsere Freiheit und Demokratie verteidigen."

Die Sozialdemokratie habe sich in der Vergangenheit schwer damit getan, den Begriff Sicherheit umfassend zu denken, gesteht Rendi-Wagner ein. Sie sei überzeugt: "Ohne innerer Sicherheit gibt es auch keine soziale Sicherheit und ohne soziale Sicherheit keine innere." Es sei jetzt an der Zeit, dem Land wieder eine andere Richtung zu geben, und das könnten nur die Sozialdemokraten. Rendi-Wagner listet hier einige konkrete Beispiele auf, was die SPÖ in der Regierung umsetzen würde:
- Weniger Steuern auf Arbeit
- Höhere Steuern für internationale Onlinekonzerne
- Abgaben auf Millionenerbschaften und Vermögen
- 100.000 neue ganztägige Kinderbetreuungsplätze
- 180.000 zusätzliche Ganztagsschulplätze
- Ausbildungsoffensive in Pflege und Technik
- Einführung einer Kindergrundsicherung
- Lohntransparenz für gerechte Löhne
- Eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes
Die aktuelle Bundesregierung geißelt sie recht ausführlich dafür, zu wenig gegen die aktuelle Teuerung zu unternehmen und bei der Bekämpfung von Corona zu versagen.
Es folgt ein Exkurs über das Gesundheitssystem, über die Energie- und Wirtschaftspolitik, über die Bedeutung von Klimaschutz und Wissenschaft, und ehe das Publikum nach knapp 45 Minuten Redezeit zu ermatten droht, kommt die SPÖ-Vorsitzende zum Thema Sauberkeit in der Politik, bei dem sich einige im Publikum wieder aufrichten und den Rücken durchdrücken. 2017 sei eine Zäsur in der Republik gewesen, sagt Rendi-Wagner.
2017 ist das Jahr, in dem Sebastian Kurz Bundeskanzler wurde, namentlich erwähnt ihn die SPÖ-Chefin nicht. Bis dahin sei allen Bundeskanzlern der Republik der Respekt vor den Säulen der Demokratie und damit auch vor dem Rechtsstaat gemeinsam gewesen. Dieser "eigentlich selbstverständliche Konsens" sei systematisch infrage gestellt worden, und zwar durch die gezielten Angriffe einer Regierungspartei auf die unabhängige Justiz. Und überdies habe man jetzt bereits den zweiten Bundeskanzler, der sich keiner Wahl gestellt hat. Es gebe eine Bundesregierung, der zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher nicht vertrauen. Rendi-Wagner spricht von einem "noch nie da gewesenen Tiefpunkt". Das Vertrauen der Menschen in die Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit der Politik sei nachhaltig erschüttert.
"Unsere Pflicht"
Womit sie erneut zu ihrem Anspruch, Kanzlerin zu werden, überleitet. "Wir lieben unser Land", sagt sie, "aber wir verurteilen das, was die Regierungen der letzten fünf Jahre aus unserem Land gemacht haben". Sie wolle ein Land, das an sich glaubt, das seine Menschen stärkt und schützt, das die Gesellschaft zusammenführt und nicht spaltet. Der Schluss ist ein wenig pathetisch, das klingt schon ganz nach einem Wahlkampfauftakt, wenn nicht gar nach einer Schlussveranstaltung: "Wir haben nur dieses eine Land – und wir haben nur eine gemeinsame Zukunft. Und deswegen ist es unsere Pflicht, das Beste aus dieser Zukunft zu machen. Und wir werden das Beste daraus machen. Dazu braucht es euch. Dazu braucht es mich."

Es wird beherzt applaudiert, die fünf ehemaligen Kanzler erklimmen die Bühne, es wird gedrückt und geherzt, auch Michael Ludwig und Peter Kaiser, die sozialdemokratischen Landeshauptleute, gesellen sich dazu. Und wenn man es nicht extra anführen würde: dass Hans Peter Doskozil, roter Landehauptmann aus dem Burgenland und Rendi-Wagners schärfster Kritiker in der Partei, nicht da ist, fällt fast keinem mehr auf. (Michael Völker, 27.3.2022)