Über alle handwerklichen Grenzen hinweg: Schreibtisch von Ernst Bloch.

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Eine besonders innige Nähe zur Utopie wird man dem spätmodernen Kapitalismus nicht nachsagen wollen. Im Gegenteil, wer in unseren Breiten für eine vollständige Aufhebung der Wirklichkeit plädiert, macht sich umgehend verdächtig. Er muss schlimmstenfalls damit rechnen, für therapiebedürftig erklärt zu werden.

Jedes streitlustige Plädoyer für eine Veränderung, die nicht bei der Verwaltung des Vorgefundenen haltmacht, bedarf von vornherein der Nachsicht. Man übt diese besonders gerne gegenüber streitlustigen Heißspornen. Endlich jemand, der anderen den Schleier der Verblendung herunterreißt! Zumal der Mannheimer Journalist und Literaturdozent Björn Hayer (35) ein Kenner von Rainer Maria Rilke ist.

"Du musst dein Leben ändern!", sprach dieser Seher des "Weltinnenraums" bekanntlich, vom Anblick des apollinischen Torsos zu tiefer Nachdenklichkeit angeregt. Und half durch Verkündigung dieses Imperativs mit, ein Reformbewusstsein zu schaffen. Eines, das, über alle handwerklichen Grenzen hinweg, den marxistischen Ernst-Bloch-Leser (Das Prinzip Hoffnung) mit der engagierten Waldorf-Töpferin lose verbindet.

Dramatischer Tonwechsel

Hayers Großessay Seid utopisch! könnte – wiewohl vom Droschl-Verlag ungewohnt fehlerhaft lektoriert – ein diffuses, von diversen spirituellen und/oder ökologischen Anliegen gespeistes Bedürfnis zu neuem Leben erwecken. Doch leider: Der Autor setzt zwar schulmäßig bei Thomas Morus ein und ist, kaum zwei Seiten später, bei Gustav Landauers Manifest Die Revolution (1907) angelangt. Hier wird "durch die Form des begeisterten Rausches" nichts Geringeres als eine ideale "Mitlebensform" anvisiert: die Aufhebung aller denkbaren Ungerechtigkeiten, das Umkippen der "Utopie" in eine reelle "Topie".

Doch wie nun dieser Wechsel ums Ganze zu bewerkstelligen sei, darüber lässt Hayer nichts Genaueres verlauten. Denn etwa zur Mitte der rund 100 Seiten ändert der Text dramatisch den Ton. Eben noch wollte Hayer den Abgleich der Wirklichkeit mit ihren Potenzialen vornehmen. Freilich, von wegen Rilke: Der Utopist aus Neigung verfällt – vielleicht um nicht allzu weltfremd dazustehen – in eine Art Referendar-Sprech. Von jetzt an regiert die formuliertechnische Bedächtigkeit von Bezirksarbeitskreisen die Prosa der Hoffnung.

Ein ewiges Pfingstfest

Frei nach Immanuel Kant plädiert Hayer für ein Weltbürgertum mit entsprechendem Institutionengefüge. Um dahin zu gelangen, bedarf es nicht nur einer "globalen Verantwortungsethik". Themen sollen überdies "zukunftsgerichtet" sein. Die sich ihrer annehmen, also wir alle, dürfen auf "instituierte Zusammenkünfte" setzen. Nur so könne "einer Gesundung des kranken Diskursklimas Vorschub geleistet werden".

Es herrscht eine Art ewiges Pfingstfest in dieser gut gemeinten, für Tierrechte und Veganismus engagiert eintretenden Schrift. Doch klebt ihr Deutsch einzig und allein an der Logik des Sachzwangs. Sie gleicht sich, womöglich ungewollt, dem Jargon derer an, die aus der Verwaltung des Ist-Zustandes ihre Pfründen beziehen (und damit die Schwächeren gängeln). Dabei bedürfte jede Utopie des Bruchs, gerade auch mit den Redegewohnheiten der Macht. (Ronald Pohl, 28.3.2022)