Die Primaballerina Olga Smirnova verließ aus Protest das Moskauer Bolschoi-Ballett.
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Nach dem aufsehenerregenden Wechsel von Olga Smirnova, Primaballerina des Moskauer Bolschoi-Balletts, nach Amsterdam an das Niederländische Nationalballett zeigt sich, was Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine in den Tanzszenen beider Länder anrichtet. Nicht nur, dass sich ukrainische Tänzerinnen und Tänzer vor der Verwüstungsarbeit der russischen Truppen in Sicherheit bringen – oder aber in den Kampf gegen die Angreifer ziehen –, auch die Heimat des Aggressors wird unerträglich für viele Künstlerinnen und Künstler.

Smirnova, die 2017 und 2018 auch Gastauftritte an der Wiener Staatsoper hatte, gehört zu den meistgefeierten Ballerinen weltweit. Heute schämt sie sich für Russland, denn "in einer modernen und aufgeklärten Welt erwarte ich, dass zivilisierte Gesellschaften politische Angelegenheiten ausschließlich durch friedliche Verhandlungen lösen".

Mit ihr ging auch Victor Caixeta, bisher Starsolist am im Vergleich zum Bolschoi nicht minder geschätzten St. Petersburger Mariinski-Ballett, zu der Compagnie in die niederländische Hauptstadt. Auch der Engländer Xander Parish kehrte Russland den Rücken. Das Bolschoi haben bisher zwei weitere Größen verlassen: der wie Caixeta brasilianische Solist David Motta Soares und der italienische Erste Tänzer Jacopo Tissi.

Keine Indifferenz

Außerdem quittierte einer der prononciertesten russischen Choreografen, der einstige künstlerische Direktor des Bolschoi, Alexei Ratmansky, seine Zusammenarbeit mit der Moskauer Institution. Er ist in Kiew aufgewachsen und arbeitet zurzeit als Artist in Residence beim American Ballet Theater in New York. An der Wiener Volksoper war erst im Februar eines seiner Stücke zu sehen.

Olga Smirnova hat familiäre Wurzeln in der Ukraine. Als Begründung für ihren Entschluss, Putin den Rücken zu kehren, führt sie an: "Wir stehen zwar nicht im Epizentrum des militärischen Konflikts, aber wir können gegenüber dieser globalen Katastrophe nicht indifferent bleiben." Direkt betroffen von dieser Katastrophe sind ukrainische Tänzerinnen und Tänzer. Etwa auch ein Teil des Kyiv City Ballet, der am Tag vor dem Angriff eine Nussknacker-Tournee in Frankreich starten wollte. Kaum in Paris angekommen, ereilte sie die Schreckensnachricht. Für Mitte März war die Rückkehr nach Kiew geplant, niemand in der Gruppe hatte an einen Angriff geglaubt.

Anne Hidalgo, Pariser Bürgermeisterin und Präsidentschaftskandidatin der Sozialisten, reagierte sofort. Das Théâtre du Châtelet, eine der wichtigsten Bühnen des Landes, bot den rund dreißig Künstlerinnen und Künstlern eine temporäre Residenz an. "Es gibt absolut keine Deadline" für das Auslaufen ihres Aufenthalts, versicherte Hidalgo.

Aufnahme Gestrandeter

Auch Warschau hat ukrainische Ballerinen und Ballerinos aufgenommen, die am Training des Polnischen Nationalballetts teilnehmen. "Die gesamte Company ist vom Krieg betroffen", sagte der Leiter Krzysztof Pastor der BBC. "Alle sind besorgt. Ich öffne die Tür." Er heiße die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen willkommen, sie nehmen erst einmal an den Klassen des Balletts teil: "Das ist wie eine Psychotherapie." Auch in Budapest, Prag und in Wien wird an Lösungen gearbeitet. Es gebe Anfragen, bestätigt Gerald Stocker, Pressesprecher des Wiener Staatsballetts, und man sei aktuell damit beschäftigt, alles zu bearbeiten.

Im Théâtre du Châtelet gab es bereits am 8. März einen gemeinsamen Abend von Tänzern der Pariser Opéra national und den Gestrandeten des Kyiv City Ballet unter dem Titel "Soutien au peuple ukrainien". Das umfangreiche Programm enthielt unter anderem Ausschnitte aus Schwanensee,Nussknacker und Men From Kiev des sowjetischen Choreografen Pawlo Wiskyi.

Mindestens zwei der rund 170 Tänzerinnen und Tänzer des Ukrainischen Nationalballetts an der Kiewer Oper sind, wie bereits Anfang März bekannt wurde, in die Armee eingetreten: der Erste Tänzer Oleksiy Potyomkin und die Solistin Lesya Vorotnyk. Im Netz werden sie dafür sehr bewundert. (Helmut Ploebst, 28.3.2022)