Der krieg in der Ukraine in russischer Sicht.

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Eine große Ankündigung fehlte, bevor am Freitag Sergej Rudskoj vom russischen Oberkommando vor die Kameras trat. Geplant war lediglich ein Update zu den Kampfhandlungen in der Ukraine, ein Monat nach deren Beginn. Das bombastische Ambiente ließ aber erahnen, dass es auch um eine größere Verlautbarung ging.

Platziert an einem langen Tisch aus edlem Holz, sprach Rudskoj vor einer gigantischen Karte der Ukraine. Zu sehen war darauf, was nach Kreml-Sicht den Stand des "Spezialeinsatzes" wiedergibt, als den Moskau den Angriffskrieg gegen den Nachbarn verharmlost. Die Rede war auch von einer "zweiten Phase": Statt wie bisher auf das ganze Land werde man sich nun auf die "Befreiung" des Donbass – also der mehrheitlich russischsprachigen Regionen im Osten – konzentrieren. Eine Strategieänderung sei das, so das erste Echo. Und das war wohl auch der Eindruck, den Russland damit vermitteln wollte. Daran, dass das wirklich so ist, gibt es aber Zweifel.

Frage: Wie genau begründete Russland denn die Verlautbarungen vom Freitag?

Antwort: Glaubt man den Äußerungen Rudskojs, dann habe Russland von vornherein "nur" den Plan verfolgt, den Donbass zu erobern. Dafür habe man zwei Optionen gehabt. Entweder den Krieg nur im Osten der Ukraine zu führen oder aber auch weitere Städte anzugreifen, um dort die ukrainische Armee zu binden. Man habe sich für Letzteres entschieden, aber niemals die Absicht gehabt, Städte wie Kiew oder Charkiw einzunehmen. Nun kontrolliere man 93 Prozent der gesamten ukrainischen Oblast Luhansk – die Russland als Volksrepublik Luhansk anerkannt hat – und 54 Prozent von Donezk. Dort gehe der Kampf um die Stadt Mariupol weiter, die Russland also einnehmen wolle.

Frage: Sind diese Äußerungen plausibel?

Antwort: Nicht unbedingt. Russland dürfte durchaus das Ziel gehabt haben, Kiew schnell einzunehmen und dort ein Marionettenkabinett zu installieren. Dafür sprechen auch mehrere Versuche, gleich zu Beginn des Krieges mit Landungsoperationen ins Zentrum vorzudringen – und Gruppen angeblicher Saboteure, die nach Kiewer Angaben das Ziel gehabt hätten, Präsident Wolodymyr Selenskyj zu töten. Auch die massiven Zerstörungen und hohen zivilen Todeszahlen, unter anderem in Vororten Kiews und in der Stadt Charkiw, sind dabei in Rechnung zu ziehen – wären diese aus russischer Sicht zu rechtfertigen, wenn sie nur der Ablenkung dienten? Außerdem hat Russland im Norden der Halbinsel Krim nicht nur beträchtliche Gebiete erobert, sondern auch Versuche gemacht, Stadtverwaltungen zu übernehmen. Diese Städte liegen nicht im Donbass – auch das würde also nicht passen.

Ein anderer Teil der Angaben dürfte aber jedenfalls ernst gemeint sein, nämlich das Streben nach Kontrolle im Donbass. Dazu passen Äußerungen des "Präsidenten" der "Volksrepublik Luhansk", Leonid Passetschnik, vom Sonntag. Er kündigte eine Volksabstimmung über den Anschluss an Russland an.

Frage: Wieso sagt Russland das jetzt?

Antwort: Dazu gibt es mehrere Interpretationen. Naheliegend ist jene, dass der bisher aus Moskauer Sicht enttäuschende Kriegsverlauf gerechtfertigt werden soll. In Kiew hegt man aber auch den Verdacht, dass die Äußerungen der Verwirrung und Ablenkung dienen. Immerhin ist die russische Armee im Begriff, die ausgelaugten Truppen vor Kiew durch neue Verbände zu ersetzen. Außerdem gab es am Wochenende großangelegte Angriffe auf ukrainische Treibstoff- und Waffendepots. Diese reichten bis weit in den Westen des Landes, mehrfach getroffen wurde die Stadt Lwiw (Lemberg) nahe der polnischen Grenze. Das soll offenbar den Nachschub stoppen.

Frage: Und was meint Kiew sonst dazu?

Antwort: Dort ist man alarmiert. Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, sprach am Sonntag von einem " Versuch, Nord- und Südkorea in der Ukraine zu schaffen", also von der versuchten Teilung des Landes. Weil es Russland nicht gelungen sei, das ganze Land einzunehmen, wolle man es nun stattdessen teilen. Das bestätigt viele der Sorgen, die Kiew sich schon gemacht hatte. Im Gegenzug kündigte er an, etwas zu tun, vor dem Moskau sich sorgen sollte: einen Guerillakrieg in den besetzten Gebieten zu starten.

Frage: Eine Lösung rückt so also nicht näher?

Antwort: Davon ist nicht auszugehen. Der Status der Krim und auch der von Russland besetzten Gebiete im Donbass ist ja schon bisher der wahrscheinlich größte Stolperstein in den Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland, die Montag in der Türkei weitergehen sollen. Erobert Moskau das ganze Gebiet – und erkennt es vielleicht als russisch an – würde das eine Lösung noch schwerer machen. Offen bleibt auch der Status der sonstigen von Russland eingenommenen Gebiete. (Manuel Escher, 27.3.2022)