Tschernobyl: der Sarkophag über dem Katastrophenreaktorblock Nr. 4, in dem sich 1986 eine Kernschmelze ereignete.

Foto: Imago/Furyk Nazar

Das Gelände um das ehemalige Atomkraft Tschernobyl kommt nicht zur Ruhe: Am Sonntagabend sind dort neuerlich Brände ausgebrochen, was die Ukraine in ihrer Forderung bestärkt, für das Gebiet, dass Russland bereits am ersten Tag seines Angriffskriegs besetzt hat, eine Entmilitarisierung der Sperrzone zu fordern. Aufgrund der russischen Militärpräsenz sei im Moment "unmöglich, die Brände vollständig zu kontrollieren und zu löschen", schrieb die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Sonntagabend auf Telegram.

Als Tschernobyl am 9. März im Zuge des russischen Angriffskriegs vorübergehend von der Stromversorgung abgeschnitten wurde, gab das weltweiten Anlass zur Sorge. Zwar sind die "jüngsten" Brennstäbe in Tschernobyl bereits 21 Jahre alt und bedürfen daher nicht unbedingt einer dauerhaften Kühlung. Doch die Sensoren und automatischen Systeme, die den Sarkophag aus Beton über dem 1986 verunglückten Reaktor überwachen, sind auf intakte Stromzufuhr angewiesen.

Verdächtiges Diebesgut

Die Stromversorgung konnte am 14. März wiederhergestellt werden, doch neben dem aktuellen Brand wurde zuletzt eine noch größere Gefahr deutlich: Wie Anatolii Nosovskyi, Direktor des Instituts für Sicherheitsprobleme von Kernkraftwerken (ISPNPP) in Kiew, gegenüber dem Fachblatt "Science" ausführt, überfielen Plünderer im Chaos der russischen Invasion ein Strahlungsüberwachungslabor in Tschernobyl. Sie sollen dabei radioaktive Substanzen entwendet haben, die dort zur Kalibrierung von Instrumenten verwendet wurden. Die Plünderer könnten jedoch andere Absichten mit den Substanzen haben: Gemischt mit konventionellen Sprengstoffen, könnten sie dazu verwendet werden, eine "schmutzige Bombe" zu bauen, mit der ein großes Areal kontaminiert werden könnte.

Zudem gibt es laut Nosovskyi in Tschernobyl noch ein weiteres Labor mit noch gefährlicheren Materialien, die ebenfalls zum Testen von Geräten verwendet werden: starke Quellen für Gammastrahlung und Neutronenstrahlung. Der Kontakt zu diesem Labor sei abgerissen, der Verbleib der gefährlichen radioaktiven Substanzen sei daher unklar.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) teilte am Sonntag mit, dass die Sicherheitslage in den ukrainischen Kernkraftwerken unverändert sei, empfängt allerdings seit knapp drei Wochen keine Live-Daten mehr von den Überwachungsgeräten aus Tschernobyl. Außerdem zeigte sie sich besorgt, dass das Personal auf dem Gelände seit 20. März nicht mehr ausgetauscht wurde. Das vorherige Team hatte sogar einen Monat ohne Ablösung arbeiten müssen.

Nuklearanlage in Charkiw unter Beschuss

Aber auch eine andere nukleare Einrichtung in der Ukraine sorgt aktuell für Schlagzeilen: Die nukleare Forschungseinrichtung "Neutronenquelle" in der ostukrainischen Stadt Charkiw ist laut ukrainischen Medienberichten erneut unter russischen Artilleriebeschuss geraten. Nach Angaben der staatlichen ukrainischen Atomaufsicht sei die Anlage am Samstag beschossen worden, wie die "Ukrajinska Prawda" berichtete. Sie war jedoch schon zu Kriegsbeginn in einen sogenannten unterkritischen Zustand heruntergefahren worden. Wegen der ununterbrochenen Kampfhandlungen in der Umgebung der nuklearen Anlage war eine Überprüfung des Ausmaßes der Schäden zunächst nicht möglich. Die Anlage war bereits vor zwei Wochen bei einer Bombardierung beschädigt und von der Energieversorgung abgeschnitten worden.

Die "Neutronenquelle" ist in der Datenbank für Forschungsreaktoren der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) gelistet. Es handelt sich nach Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln jedoch nicht um einen klassischen Reaktor. Laut früheren Mitteilungen der IAEA fand in der Forschungsanlage keine fortwährende nukleare Kettenreaktion statt. Nur sehr geringe Mengen an radioaktivem Material seien dort gelagert. (trat, APA, 28.3.2022)