Wieder einmal ist Polen im doppelten Sinn ein Prüfstein für die Europäische Union: als Frontstaat im Konflikt mit Wladimir Putins Russland nach dem Überfall auf die Ukraine und als Testfall, zusammen mit Ungarn, für die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit. Der Blitzbesuch des US-Präsidenten Joe Biden und die außerordentlich scharfen Angriffe aus dem Kreml ("ein Land der pathologischen Russophobie" und eine "Gemeinschaft von politischen Schwachköpfen", so Ex-Präsident Dmitri A. Medwedew) unterstreichen vor aller Welt, wie gefährdet dieses Land ist, wo mit beispielhafter Hilfsbereitschaft über 2,2 Millionen von 3,7 Millionen ukrainischen Flüchtlingen aufgenommen wurden.
Darüber hinaus beschloss vor einigen Tagen das Parlament, auch mit den Stimmen der Opposition, eine Erhöhung der Militärausgaben von 2,2 Prozent auf drei Prozent des Sozialprodukts. Polen war schon bisher eines der zehn Länder unter den 30 Nato-Mitgliedsstaaten, welche die prozentuelle Verpflichtung erfüllt haben. Jetzt drängt Warschau zusammen mit Litauen, bisher vergeblich, auf ein Verbot der Ölimporte aus Russland und spielt überhaupt die Rolle des Schrittmachers bei der Hilfe für die Ukraine und bei der Warnung vor der Bedrohung Europas durch die russische Aggression.

Die letzten Wochen ließen auch infolge des Ukraine-Krieges die Fiktion der "unverbrüchlichen polnisch-ungarischen Freundschaft" und den Riss zwischen den sogenannten Visegrád-Staaten erkennen. Im krassen Gegensatz zu Polen lehnt Viktor Orbán Rüstungslieferungen über Ungarn für die Ukraine ab, er blockiert nicht die EU-Beschlüsse, aber kritisiert mit keinem Wort seinen Busenfreund Putin, mit dem er drei Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine in herzlicher Atmosphäre in Moskau geplaudert hat.
Kämpfende Zivilgesellschaft
Die überwiegende Hilfsbereitschaft der Polen entspringt dem Gefühl, wenn Putin nicht gestoppt wird, könnte Polen der Nächste sein.
Regimekritische Wissenschafter und Intellektuelle warnen allerdings zu Recht, dass der Westen durch den Schulterschluss mit Polen im Ukraine-Krieg die für die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Medien kämpfende Zivilgesellschaft nicht im Stich lassen dürfe (siehe dazu den Gastkommentar von Maciej Kisilowski). Noch vor drei Monaten verhinderte nur das Veto des Staatspräsidenten Andrzej Duda die von der Regierungspartei PiS geplante Attacke gegen den privaten Fernsehsender des US-amerikanischen Konzerns Discovery.
Die EU-Kommission steht vor der schwierigen Aufgabe, Polen bei der Flüchtlingshilfe zu unterstützen und zugleich die Subventionen im Einklang mit dem neuen Sanktionsmechanismus zu stoppen, wenn die Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet werden kann.
Die Solidarität mit der ums Überleben kämpfenden Ukraine und mit den bedrohten Völkern Osteuropas darf nicht einen Freibrief für Autokraten bedeuten, unabhängig davon, ob sie Gegner des Diktators im Kreml (wie Jarosław Kaczyński) oder sein verlängerter Arm (wie Viktor Orbán) sind.
Nach dem langjährigen Schweigen der Putin- und Orbán-Freunde sollte man endlich mit der Doppelmoral der Schlafwandler Schluss machen. (Paul Lendvai, 28.3.2022)