Der Ukraine-Krieg sei ein Krieg von "globaler Konsequenz, in dem die Grundprinzipien der internationalen Beziehungen ausgefochten werden", schreibt Sicherheitspolitik-Experte Tobias Fella in seinem Gastkommentar.

Die Empörung ist groß. US-Präsident Joe Biden bezeichnete seinen Amtskollegen Wladimir Putin als Schlächter, Kriegsverbrecher und Diktator, der nicht an der Macht bleiben darf. Er reiht sich damit ein in eine Tendenz zur Personalisierung von Politik, die – wenn wir nicht aufpassen – geradewegs in der nächsten Ausrufung eines "Endes der Geschichte" mündet.

Putin spielt eine zentrale Rolle in einem hochpersonalisierten russischen System. Er ist ebenso ein Agent wie ein Produkt einer historischen Struktur. Zu ihr gehört das Konzept eines eurasischen Imperiums, das sich durch eine einzigartige Identität des kollektiven Zusammenhalts, der Spiritualität und des Autoritarismus auszeichnet. Auf seiner Grundlage ist Russland der Hauptbestandteil eines multiethnischen, politisch-autonomen Raums, der von den Erfahrungen der Steppe, der Wüste, Taiga und Tundra geprägt ist. Der Raum brachte danach eine eurasische Kultur hervor, die weder europäisch noch asiatisch ist, sondern für sich Selbstständigkeit und wahre Souveränität beansprucht.

Harte Worte gegen Wladimir Putin in einer historischen Rede: US-Präsident Joe Biden in Warschau.
Foto: AFP / Brendan Smialowski

Aus diesem geografischen Determinismus folgt, dass der Kreml ein Interventionsverbot für raumfremde Mächte im reklamierten Eurasien einfordert und sich als Großmacht, nicht als Weltmacht definiert. Er lehnt westlichen Universalismus als imperialistische globale Einflusssphäre ab und fordert eine multipolare internationale Ordnung ein.

Putin und seine intellektuelle Entourage propagieren hierbei ein in hohem Maße egalitäres und konsensuales, nicht aber ein demokratisches Imperium. Umso mehr sind die Ukrainer und Ukrainerinnen zwar Brüder und Schwestern. Sie sind aber autonome Identitäten allenfalls in einem russisch geprägten, multiethnischen Imperium.

Kontinentale Stabilität

Im dominanten russischen Eurasianismus existieren mit den Vereinigten Staaten und Europa zwei westliche Imperien. Beide verfolgen eine universalistische Logik und wollen die Welt mit Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechten und Individualismus überziehen. Sie stehen unter Führung der USA in einem unauflöslichen Antagonismus zu Russland. Dieser wäre einzudämmen, wenn die westlichen Mächte ihren Globalismus aufgeben. Dies gilt im russischen Diskurs als unwahrscheinlich, da dort auch die Identität des Westens durch seine Geografie bestimmt wird: Auf einen maritimen Westen der Dynamik, Handelsmacht und des Fortschritts treffen eurasische kontinentale Stabilität, Hierarchie und autoritäre Herrschaft. Die Konsequenz ist eine beschränkte gegenseitige Dialogfähigkeit.

China wiederum gilt als strategischer Verbündeter der Russischen Föderation auf dem Weg von einer demokratischen hin zu einer autokratischeren Welt. Es ist das dritte unter den, mit Russland, vier Imperien. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es den Globus von einem geografischen Kern aus mit Projekten wie der Neuen Seidenstraße ökonomisch-diskursiv durchdringt, eine Einflusssphäre in Asien beansprucht und dazu bereit ist, militärische Mittel einzusetzen. Es gibt in russischen Zirkeln allerdings Stimmen, die von einer chinesischen Herausforderung warnen. Insofern böten sich hier Anknüpfungspunkte, um eine autokratische Frontstellung zu vermeiden beziehungsweise zu vermindern.

"Im dominanten russischen Eurasianismus existieren mit den USA und Europa zwei westliche Imperien."

Der Westen hat zu lange dieses imperiale Politikverständnis übersehen. Er ist zudem dem ahistorischen Irrtum aufgesessen, dass der menschliche Fortschritt und die Interdependenz das Risiko des Krieges aus der Politik verbannen. Die Folge dieses selbstherrlichen Verständnisses der Moderne ist eine Rückkehr der Geschichte, eine Disruption mit Ähnlichkeiten zu den 1930er-Jahren. Es ist ein Weltordnungskrieg, in dem Grundprinzipien der internationalen Beziehungen ausgefochten werden, ein Krieg also von globaler Konsequenz.

Es ist möglich, dass der Kreml die Hauptkampfhandlungen in der Ukraine bis zum 9. Mai 2022 abschließen möchte, um, an diesem Tag des Sieges über das Dritte Reich, einen weiteren Triumph über den Faschismus zu reklamieren. Insofern stehen der Ukraine kritische Wochen bevor, in denen sie Beistand benötigt. Dies muss nicht durch eigene imperiale Politik geschehen, sehr wohl aber über ihr Verständnis als handlungsleitende Kategorie.

Biden hat diesem Ansatz mit seiner Warschauer Aussage vom Samstag, wonach Putin nicht an der Macht bleiben darf, keinen guten Dienst getan. Er hat möglicherweise sogar den russischen Durchhaltewillen gestärkt. Ein Grund für Zersetzungsbewegung im Westen ist das nicht. Vielmehr hat die frühere Vergangenheit gezeigt, wie wichtig die Einheit des atlantischen Raums ist.

Brücken bauen

Für Deutschland stellt sich die Frage, ob es die "Zeitenwende" mit Nachdruck verfolgen möchte. Es ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und kann länger vorteilhafte Beziehungen zu den großen Autokratien gestalten als andere Länder. Es kann Brücken zu ihnen bauen, ohne einzuräumen, dass es diese manchmal über andere baut. Es kann einer imperialen Welt zustimmen und prosperieren. Sollte es das tun? Ich denke nein. (Tobias Fella, 29.3.2022)