Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die EU verändert. Im Gastkommentar fasst Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, die Umbrüche zusammen.

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Seit der russischen Invasion in der Ukraine vor vier Wochen bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Europa hat sich verändert. Und auch wenn das volle Ausmaß dieser Entwicklung noch nicht absehbar ist, zeichnen sich schon jetzt bemerkenswerte Umbrüche ab.

1. Nicht wenige Beobachter und Akteure hat die – oft unterschätzte – Handlungsfähigkeit der Europäischen Union überrascht. In Notsituationen dieser Größenordnung geht sie harten Entscheidungen nicht aus dem Weg und reagiert, im Vergleich zu manch früherer Krise, bisher schnell, entschlossen und geeint. Wladimir Putins Russland als Außenfeind schweißt zusammen. Ohne die EU als gemeinsames Dach wäre eine so umfassende europäische Antwort auf die Aggression Moskaus nicht möglich gewesen.

2. Die Wirtschaft ordnet sich der Politik unter und nicht umgekehrt. Der Frieden hat seinen Preis. Weitreichende Sanktionspakete gegen Russland werden geschnürt, und internationale Konzerne kappen sukzessive ihre Verbindungen nach Russland. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten werden die ökonomischen, humanitären und sozialen Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine zu tragen haben und suchen gemeinsam nach nachhaltigen Alternativen zu bisherigen Rohstoffabhängigkeiten. Finanzierungsfragen, Debatten über die Reform der EU-Fiskalregeln nach Corona und die wirtschaftliche Steuerung der EU treten aktuell in den Hintergrund.

3. Einen automatischen Wandel durch europäischen Handel gibt es nicht. Intensive internationale Wirtschaftsbeziehungen mit Russland haben die friedlichen Beziehungen letztlich nicht gefördert. Vielmehr setzt Moskau seinen ökonomischen Einfluss strategisch ein, um westliche Werte und Demokratien zu schwächen. Die Union zieht daraus ihre Lehren und wird mit Innovation, Diversifizierung, Regionalisierung, neuen Partnern und Absatzmärkten unabhängiger und resilienter werden.

4. Die EU ist ein wirtschaftlicher Riese, aber kein politischer Zwerg. Spät, aber doch weitet sie ihren geopolitischen Aktionsradius aus. Nachahmenden Unruhestiftern, etwa auf dem Westbalkan, sei das ins Stammbuch geschrieben. Die ukrainischen, georgischen und moldauischen EU-Beitrittsansuchen auf der einen, die fehlende serbische Solidarität auf der anderen Seite führen zu einem Umdenken der europäischen Nachbarschaftspolitik und des stagnierenden Erweiterungsprozesses.

5. Die EU rüstet auf. Deutschland liefert Waffen, stellt seiner Bundeswehr ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen zur Verfügung und erhöht die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Mit Kriegsbeginn wurden aber nicht nur der deutsche Pazifismus und die schwedische und finnische Bündnisfreiheit zu Grabe getragen. Andere Länder folgen diesem Beispiel, und auch das militärisch neutrale Österreich muss sich nach Jahrzehnten der Friedensdividende neu rüsten und seinen Beitrag leisten.

6. Erstmals finanziert die EU auch Defensivwaffen und Ausrüstung für die ukrainischen Streitkräfte. Grundlage dafür ist die erst 2021 eingeführte Europäische Friedensfazilität zur Konfliktverhütung, Friedenserhaltung und Stärkung der internationalen Stabilität und Sicherheit.

7. Europäische Solidarität ist wichtiger denn je. Wenn die wirkliche Gefahr für die polnische und tschechische Souveränität weniger in Brüssel, sondern doch weiter östlich liegt, ändert sich auch ihr Verständnis der europäischen Integration. Hier geht es nicht mehr um vermeintliche Einmischung in nationale Angelegenheiten, sondern um Existenzfragen. Sicherheitspolitischer Beistand, humanitäre Hilfe und die wirtschaftlichen Kosten des Krieges werden auf breitere, europäische Schultern verteilt. Und auch der westliche Blick nach Osten wird sich wandeln, denn der bislang als gefühllos dargestellte Osten empfängt Millionen von Schutzsuchenden.

8. Europäische Toleranz zieht klare Grenzen. Mit dem Verbot russischer Propagandasender erreicht der Kampf gegen Desinformation nach Corona, inmitten des Krieges und nach Jahren des Versuchs, das liberale europäische Gesellschaftsmodell zu unterminieren, einen neuen Höhepunkt. Eine besondere Herausforderung dabei bleibt jedoch, freie und unabhängige Medien, die auch in einigen EU-Mitgliedsstaaten massiv unter Druck stehen, zu schützen.

9. Europäische Gesprächskanäle bleiben offen. Auch wenn die Lage noch so aussichtslos erscheint, versuchen die EU-Staats- und -Regierungschefs, allen voran Emmanuel Macron, Olaf Scholz und der finnische Präsident Sauli Niinistö, eng abgestimmt den Kontakt zu Putin zu halten, um auch auf diesem Weg, wenn nur irgendwie möglich, eine weitere Eskalation zu verhindern und jede kleinste Chance auf einen dringend notwendigen Waffenstillstand und eine friedliche Lösung zu nutzen.

10. Ein Zurück in alte Zeiten wird es nach diesem Krieg jedenfalls nicht mehr geben. Russland wird für Jahre international isoliert sein, der Transformationsprozess Europas an Geschwindigkeit und Widerstandsfähigkeit zunehmen und die EU, die Attraktivität ihres mutmaßlich schwachen Gesellschaftsmodells, zu verteidigen wissen.

Am 24. Februar ist Europa in einer neuen Welt aufgewacht. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist eine Zäsur, für das Friedensprojekt der Europäischen Union ist er die härteste und größte Herausforderung seit ihrer Gründung. Putin hat paradoxerweise in einem Monat geschafft, was über viele Jahre so nicht gelungen ist. Sein Verhalten hat die Geschlossenheit und Entschlossenheit der EU massiv gestärkt und dazu geführt, dass alte Gewissheiten nun neuen Herausforderungen weichen.

Europa wird in Krisen geschmiedet und wird die Summe der Lösungen sein, die für diese Krisen gefunden wurden, schrieb Jean Monnet. Damit es auch dieses Mal so ist, braucht Europa eine gehörige Portion an Solidarität, Durchhaltevermögen und einen langen Atem. (Paul Schmidt, 29.3.2022)