Die Müllsammlerin steht bis zu den Schienbeinen in Papier, Holz, Stoff, Aludosen und Plastik. Mit anderen Frauen bildet sie eine Traube. Sie warten auf den rostigen Truck, der im Schritttempo durch die Straßen von Kenias größter Müllhalde Dandora zuckelt, um dann seine Ware abzuladen. Obwohl eher von Trampelwegen zwischen meterhohen Müllbergen die Rede sein muss und nicht von Straßen. Täglich strömen tausende Menschen hierher, um ihren Lebensunterhalt unter widrigen Bedingungen zu verdienen.

"Welcome to the party!", ruft die Müllsammlerin der Gruppe europäischer Besucher zu. Zeit für ein Gespräch hat sie nicht – der Laster bringt die Abfälle aus der Innenstadt von Nairobi, nur wer schnell ist, kann die wertvollsten Stücke ergattern. Abfall ist schließlich nicht gleich Abfall. Wo das europäische Auge Müll sieht, erkennen "Pickers", so werden die Müllsammler genannt, den Unterschied zu Verwertbarem. Am begehrtesten ist Plastikmüll, der sich an große Recyclingfirmen weiterverkaufen lässt.

Vor allem Trucks, die aus der Innenstadt kommen, sind beliebt bei Waste-Pickers. Darin findet sich meist wertvolles Plastik und "gute" Essensreste.
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50 Fußballfelder Abfall

Dandora erstreckt sich wie ein Ozean über eine riesige Fläche, ein Gebiet so groß wie 50 Fußballfelder heißt es. Doch statt einer Meeresbrise sticht der Gestank von verfaulten Essensresten und verbranntem Abfall in der Nase. Es hat knapp 30 Grad, die Sonne trägt ihren Teil zum Gestank bei, plötzlich wird die Corona-Maske zum Segen. Der Boden federt jeden Schritt weich ab, woraus der Untergrund besteht, lässt sich aber kaum sagen.

All das belastet auch die Umwelt massiv, Schadstoffwerte in Luft und Boden sind um ein zigfaches höher als unbedenkliche Werte, warnen Umweltorganisationen. Dandora steht sinnbildlich für das global wachsende Abfallproblem, speziell beim Thema Plastik. Einer Schätzung des WWF zufolge landen jährlich rund zwölf Millionen Tonnen Plastikmüll im Meer. Deswegen hat die Umweltversammlung der Uno Anfang März beschlossen, bis 2024 einen Vertrag gegen globale Plastikverschmutzung auszuarbeiten (siehe Wissen).

Müll so weit das Auge reicht.
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Zwischen 1950 und heute stieg die weltweite Kunststoffproduktion von zwei auf fast 400 Millionen Tonnen. In den kommenden Jahren sollen die Produktionskapazitäten sogar noch verdoppelt werden. Laut Uno werden nur neun Prozent des Mülls wiederverwertet. Der Rest landet in Deponien, wird verbrannt, ins Ausland exportiert oder treibt über Flüsse in die Meere.

Neben Menschen durchwühlen Schweine, Ziegen und vor allem Marabus die Müllberge Dandoras und suchen nach Essensresten. Die aasfressenden Vögel, an deren Flügel der Dreck klebt, haben keinerlei Scheu vor Menschen – in der Müllhalde haben sie ein gemeinsames Zuhause gefunden.

Tausende Menschen auf Müll angewiesen

"Etwa 2000 Menschen suchen täglich nach Abfall, während der Ferien kommen viele Kinder, da sind es bis zu 3000", sagt Samuel Goko. Insgesamt würden rund 10.000 Menschen von der Müllhalde leben. Bei Goko laufen die Fäden zusammen, wenn es um Organisatorisches oder um Konflikte zwischen Sammlern und Händlern geht. Sprich: Er hat das Sagen.

Laut Goko verdienen Pickers umgerechnet rund 1,50 Euro pro Tag, die "wirklich guten" bis zu zwölf Euro. Wer "gut" ist oder sein kann, liegt jedoch primär an Beziehungen. Die Müllhalde ist in Zonen unterteilt, nicht jeder darf dort sammeln, wo der wertvolle Müll landet. "Es gibt verschiedene Gruppen, die sich abwechseln", sagt er. Wer darf wann sammeln? Wer zahlt was? Goko weicht derartigen Fragen aus und verstrickt sich in Widersprüche. Einen tieferen Einblick in die Strukturen möchte er offenbar nicht geben.

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Marabus haben in der Müllhalde Dandora ein Zuhause gefunden. Scheu vor Menschen haben sie gänzlich abgelegt.
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Fest steht, dass lokale Recycler regelmäßig ihre LKWs nach Dandora schicken, um dort Müll zu kaufen. Eine davon ist Vanita Halai, die in Nairobi die Firma Vintz Plastic betreibt und täglich bis zu 50 Tonnen Plastikmüll verarbeitet. Aber um den Müll überhaupt erst kaufen zu dürfen, müsse sie in Dandora Eintritt bezahlen, sagt sie. Etwa zehn bis 20 Cent kostet ein Kilo Plastikmüll dann.

Tote Babys

Das Leben auf der Müllhalde ist hart und erbarmungslos. "Alle zwei Wochen übergeben uns die Picker tote Babys, die sie unter dem Abfall entdecken", erzählt Halai. "Meistens sind die Babys von vergewaltigten jugendlichen Mädchen. Mit Kind sind sie am Heiratsmarkt nichts mehr wert. Corona ließ die Gewalt in den Slums explodieren, die Situation vor allem für junge Frauen ist katastrophal", sagt Halai. Die toten Babys bringe das Unternehmen auf den Friedhof.

Es gäbe Pläne der Stadtregierung, Recyclingzentren zu bauen und die Mülltrennung zu dezentralisieren, erklärt Nairobis Bürgermeistern Anne Kananu Mwenda im Gespräch mit dem STANDARD. Das würde sämtliche Probleme beheben. Hört man sich allerdings in der Stadt um, dann erfährt man, dass es dieses Versprechen bereits seit zehn Jahren gibt. Nur passiert ist bisher nichts.

Damit Recycling-Unternehmen den gesammelten Müll kaufen können, müssen sie auf der Halde Eintritt zahlen.
Foto: EPA/Daniel Irungu

Status quo erhalten

Dem Vernehmen nach kooperiere die Politik eng mit den "Chefs" der Müllhalde. Der wortwörtliche schmutzige Status quo bringe zu viel Geld, um wirklich etwas an der Situation zu ändern, sagen Kenner beider Seiten. Offiziell gilt Dandora seit über 20 Jahren als überfüllt, dennoch landen täglich rund 2000 Tonnen Müll in der Deponie – das gibt man sogar im Rathaus zu.

Dabei sollte Dandora in den 1970er-Jahren mit Mitteln der Weltbank zu einem hochwertigen Wohngebiet umgebaut werden. Doch bald begann man den Müll der Millionenstadt dort abzuladen – immer schneller, immer mehr.

Heute ist Dandora ein Ort, den die Menschen lieber gestern als morgen verlassen würden. "Wer im Leben ganz unten gelandet ist, kommt hierher und geht so schnell nicht wieder", sagt Samuel Goko. Er wünsche es niemand, doch für viele gehe es nicht anders. (Andreas Danzer aus Nairobi, 29.3.2022)