Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba, die Außenminister Russlands und der Ukraine, im Gespräch in der Türkei am 10. März.

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Eine für Montag geplante Gesprächsrunde zwischen Delegationen aus Kiew und Moskau in der Türkei wurde zwar kurzfristig auf Dienstag verschoben – doch in Wortmeldungen der beiden Kriegsparteien dringt immer wieder auch Ermutigendes nach außen. Zugleich gilt es aber, den Optimismus zu zügeln. Denn viele der schwierigsten Fragen scheinen derzeit schwer zu klären.

Neutralität

Es war einer der ersten Kriegstage, als im Kiewer Präsidentensitz Mykhailo Podoljak vor die Presse trat. Die Ukraine, sagte der Kommunikationsberater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, biete Gespräche über die Neutralität an. Eine neutrale Ukraine hatte auch Moskau vor dem Krieg gefordert. Raum für eine Einigung? So einfach ist es nicht, wie sich in den folgenden Gesprächen zeigte. Moskau und Kiew haben recht unterschiedliche Auffassungen, wie eine Neutralität aussehen könnte. Aus dem Kreml hieß es kürzlich, Vorbild könnte Österreich sein – kein Beitritt zu einem Militärbündnis und keine Stationierung fremder Truppen. Was mitschwingt: Die Ukraine könnte in dieser Konstruktion ihr Militär behalten – besonders stark sollte es aber nicht sein (siehe rechts). Kiew verlangt Sicherheitsgarantien. Diese sollen von Russland kommen, aber auch von westlichen Staaten. Dem wiederum müssten diese erst einmal zustimmen. Denn sie müssten die Ukraine dann im Ernstfall verteidigen.

Aussichten: Auf die Zielformulierung könnten sich wohl beide einigen, der Teufel aber steckt im Detail. Und auf jene Länder, die Sicherheit garantieren sollen, müsste man sich erst verständigen – auch mit diesen Staaten selbst.

Demilitarisierung

Was genau gemeint ist, war schon etwas schleierhaft, als Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zum Beginn des "Spezialeinsatzes" in der Ukraine auf sie zu sprechen kam: die "Demilitarisierung" der Ukraine, die Russland immer noch als Kriegsziel nennt. Dass Kiew vollständig auf eine Armee verzichten müsste, ist nicht anzunehmen – jedenfalls wäre die Regierung dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bereit, das zu akzeptieren. Eine andere Interpretationsmöglichkeit nannte kürzlich der Außenminister Russlands Sergej Lawrow: Bestimmte Waffensysteme sollen künftig nicht mehr so aufgestellt werden dürfen, dass sie russisches Staatsgebiet erreichen können. Eine wieder andere Interpretation lässt das Vorgehen der russischen Armee zu. Sie bombardiert Munitions- und Treibstofflager auch in jenen Gebieten der Westukraine, in denen sonst nicht gekämpft wird. Allerdings: Was mit den zahlreichen Waffen passieren soll, die die Ukraine aktuell vom Westen geliefert bekommt – das ist offen.

Aussichten: Russland hat sich vieles offengelassen. Das kann, je nach späterer Auslegung, bei einer Einigung helfen oder sie erschweren. Der bisherige Verlauf der Gespräche lässt auf Ersteres hoffen.

"Entnazifizierung"

Es ist vielleicht das größte Rätsel in den gegenwärtigen Verhandlungen. Was genau meint Russland, wenn es stetig die Forderung nach "Entnazifizierung" der Ukraine wiederholt? Weil Moskau die gesamte ukrainische Führung als Nazi-Junta verunglimpfte, war man anfangs davon ausgegangen, dass mit der Formulierung der Sturz von Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinem Kabinett gemeint war. Das mag auch tatsächlich der Fall gewesen sein – allerdings sind Russlands Bemühungen in dieser Frage fehlgeschlagen. Die Forderung aber blieb. Aus den Verhandlungen heißt es, die ukrainische Delegation habe auf bestehende Gesetze in der Ukraine verwiesen, die nationalsozialistische Betätigung schon jetzt untersagen. Russlands Verhandler Wladimir Medinski sagte jüngst, man habe "die komische Situation", dass das Gegenüber kein Nazi-Problem in der Ukraine sehe. Selenskyj wiederum sieht die Forderung als "beleidigend" an und will nicht mehr darüber verhandeln.

Aussichten: Ein Problem zu lösen, das es jedenfalls in der behaupteten Form nicht gibt – das kann entweder sehr einfach oder sehr schwer sein. Russland könnte "Zugeständnisse" der Ukraine akzeptieren – oder auf der eigenen Propaganda beharren.

Donbass und Krim

Neutralität, Sicherheitsgarantien und Rückzug des russischen Militärs – das hat man aus Kiew bereits mehrfach als Verhandlungsoption gehört. Eher neu war hingegen, was Präsident Selenskyj am Wochenende im Interview mit mehreren russischen Medien in Sachen Donbass sagte. "Wir verstehen", so der Staatschef, "dass wir nicht das ganze Gebiet vollständig befreien können." Ein Sieg der Ukraine wäre es für ihn, würden prorussische Truppen "dorthin zurückgehen, wo sie begonnen haben". Gemeint sind damit offenbar die Grenzen der separatistischen Volksrepubliken von vor dem Krieg. Nicht angesprochen, aber wohl auch gemeint ist damit die von Russland annektierte Krim. Dass Moskau, das gerade erst die "Befreiung des Donbass" als Ziel der "zweiten Phase" seines Krieges definiert hat, dies akzeptieren würde, ist nicht anzunehmen. Russland hat ja bereits die gesamten Gebiete der Oblasten Luhansk und Donezk als Teil der "Volksrepubliken" definiert, die es vor dem Krieg als Staaten anerkannt hatte. Offen ist auch, was mit dem ansonsten von Russland eroberten Gebiet, etwa der Landbrücke zur Krim, passiert.

Aussichten: Die wohl schwierigste Frage – zumal es für beide wenig Anreiz zum Nachgeben gibt.

Sanktionen

Auch in den Gesprächen aufgetaucht ist, aus russischer Sicht wenig überraschend, die Frage der Sanktionen. Moskau erwartet sich, dass die finanziellen und sonstigen Strafmaßnahmen des Westens bei einer Beendigung der Kämpfe wieder zurückgenommen werden – zumindest zu einem großen Teil. Damit freilich verhandeln die beiden Seiten über eine Frage, die sie selbst nicht lösen können. Die Ukraine kann ihre Partner im Westen allenfalls auffordern, Sanktionen wieder zurückzunehmen – was allerdings auch für Kiew Gesichtsverlust bedeuten würde. Zugleich hat die Vergangenheit gezeigt, dass Sanktionen oft wesentlich einfacher zu beschließen als wieder rückgängig zu machen sind. Dafür würde es die gemeinsame Zustimmung vieler Akteure brauchen. Eine vollständige Rücknahme scheint ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, zumal es auch jene Sanktionen gibt, die nicht von staatlicher Seite kommen. So haben sich etwa viele Firmen aus Russland zurückgezogen – ihre Rückkehr ist nicht staatlich anordenbar.

Aussichten: Diffus. Einem allfälligen Bitten Kiews könnten sich Verbündete – denen die Sanktionen noch dazu auch selbst schaden – schwer verschließen. Aber die nötige Einigkeit schafft hohe Hürden. (Manuel Escher, 28.3.2022)