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Viktor Orbán (im Bild) will zum fünften Mal Ministerpräsident werden.

Foto: Reuters

Ein riesiger knallroter US-Truck pflügt sich durch Ungarn und macht mit dem rollenden Studio des Internet-TV-Senders Partizán Station im Hinterland. In Livestreams kommen lokale Bürger, Aktivistinnen, Experten zu Wort. Weil sie etwas zu sagen haben, in den von der Regierung dominierten Medien aber kein Gehör finden. "Wir sind der größte Youtube-Channel des Landes, mit täglichen Sendungen, und verstehen uns als Gegenöffentlichkeit", sagt Márton Gulyás, der Partizán vor mehr als drei Jahren gegründet hat. Der Channel mit 270.000 Abonnenten ist parteiunabhängig, links, und primär crowd-funded.

Am Sonntag stehen Parlamentswahlen an. Der Rechtspopulist Viktor Orbán strebt eine fünfte Amtszeit – die vierte in Folge – an. Erstmals seit 2010 sieht er sich einer geeint antretenden Opposition gegenüber, angeführt von Péter Márki-Zay. Der Bürgermeister der südostungarischen Kleinstadt Hódmezövásárhely, bis vor vier Jahren eine Orbán-Hochburg, deklariert sich als konservativ, ist bekennender Katholik und Vater von sieben Kindern. Zugleich steht er für Toleranz, Offenheit und Loyalität zu den westlichen Bündnissen EU und Nato.

Knappes Rennen

Meinungsumfragen sagen ein knappes Rennen zwischen Orbáns Fidesz-Partei und der gemeinsamen Liste von sechs Oppositionsparteien voraus. Sie umfasst linke, grüne, liberale und rechtskonservative Parteien. Doch das Wahlsystem ist kompliziert, und Orbán hat es über die Jahre immer wieder zu seinen Gunsten ändern lassen. Der Zuschnitt der Direktwahlkreise und die Manipulierung und Einschüchterung der Bevölkerung in den ärmeren Landstrichen verschaffen Fidesz enorme Vorteile. Bei den Anomalien des Wahlrechts ist es sogar denkbar, dass die Opposition knapp vor Fidesz zu liegen kommt und trotzdem keine Parlamentsmehrheit hätte.

Erdrückend ist das Übergewicht der Regierungspropaganda in den Medien. Etwa 500 Outlets, darunter die gesamte Lokalpresse, gehören zur Medienstiftung Kesma, alle mit Orbán-Getreuen besetzt. Das Staatsfernsehen MTV und Staatsradio MR senden reine Propaganda. Die Regierung wird glorifiziert, Oppositionspolitiker werden dämonisiert.

Normalität als Programm

Der Partizán-Truck steuert nicht mit Gegenpropaganda dagegen, sondern mit medialer Normalität. In Tiszaújváros, einer Industriestadt im Osten, widmet Gulyás seine Studiosendung den Themen Deindustrialisierung und Reindustrialisierung im postkommunistischen Kapitalismus. Der örtliche sozialistische Oppositionskandidat Imre Komjáthi erzählt, wie es den Gewerkschaftern im Chemiekombinat Borsodchem gelang, Kollektivverträge zu erkämpfen, die bis heute Gültigkeit haben – keine Selbstverständlichkeit in Ungarns postkommunistischer neuen Welt.

Das Phänomen Partizán ist Teil eines breiteren Erstarkens oder Sich-Aufbäumens der Zivilgesellschaft in dem von Orbán zunehmend autoritär regierten Land. Die Vorwahl der Opposition, aus der Márki-Zay siegreich hervorging, wurde erstmals bei den Lokalwahlen 2019 in einigen Gemeinden erprobt; auf Druck der Zivilgesellschaft auch in Budapest. Als Erfolg kann sie auch verbuchen, dass am Sonntag für die rund 10.000 Wahllokale 27.000 Beisitzer zur Verfügung stehen. Sie sind entsprechend geschult und werden, von der Opposition nominiert, den Wahlvorgang mitkontrollieren.

Klarer denn je empfinden viele, dass diese Wahl ein Plebiszit über Orbán ist. Darüber, ob sie in einem Land leben wollen, das immer enger, autoritärer, korrupter wird und sich dem Russland Putins angleicht – oder in einem freien, pluralistischen, europäischen Land. Der Ausgang ist völlig offen. (Gregor Mayer aus Budapest, 30.3.2022)