Zu einem Handschlag waren die beiden Delegationen – links Russland, rechts die Ukraine – dem Vernehmen nach nicht bereit. Jedenfalls auf dem Papier gab es aber Fortschritte.

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Seit mehr als einem Monat tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine schon, ganze Städte liegen in Trümmern, die Zivilbevölkerung leidet unter Bombardements und Artilleriebeschuss. Während in Istanbul die Unterhändler Russlands und der Ukraine am Dienstag eine eintägige Verhandlungsrunde starteten, meldete Kiew einen russischen Raketenangriff auf ein Regierungsgebäude im südukrainischen Mykolajiw, mindestens zwölf Menschen starben dabei. Später wurde bekannt, dass Moskau zehn Diplomaten aus den baltischen EU-Staaten des Landes verwiesen hat. Später folgte die Ausweisung russischer Diplomaten aus den Niederlanden, Belgien und Irland.

Vor den Verhandlungen hatte sich keinerlei Optimismus breitgemacht: Den ukrainischen Delegierten war empfohlen worden, bei der Konferenz im Istanbuler Dolmabahçe-Palast möglichst nichts zu trinken, nichts zu essen und auch keine Oberflächen anzufassen: Die Gefahr, Opfer einer Vergiftung zu werden, schien nicht ausgeschlossen. Am Nachmittag meldete der russische Chefverhandler Wladimir Medinski dann doch, dass die Gespräche "konstruktiv" verlaufen seien.

Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft bei Sicherheitsgarantien

Russland verkündete nach den Gesprächen in Istanbul: Moskau reduziere seine "militärischen Aktivitäten" im Norden um die Hauptstadt Kiew und die Großstadt Tschernihiw deutlich.

Als Grund für ihr Einlenken zumindest in zwei der vielen umkämpften Regionen nennen die Russen ein Angebot der Ukrainer. Demnach sei Kiew bereit, unter Gewährung von Sicherheitsgarantien einen Vertrag über einen neutralen, block- und atomwaffenfreien Status der Ukraine abzuschließen. Diese harten Garantien soll es von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats wie den USA, Frankreich, Großbritannien, China oder Russland nach dem Vorbild der Nato-Militärallianz geben. Der Bündnisfall-Artikel des Nato-Vertrags sieht vor, dass ein Angriff auf ein Land des Verteidigungsbündnisses als Angriff auf alle Bündnisstaaten gewertet wird und folglich alle Partner einem angegriffenen Nato-Mitglied militärisch beispringen müssen. Dass der Westen Kiew diese harten Sicherheitsgarantien leisten werde, hielt der Russland-Experte Gerhard Mangott im "ZiB 2"-Interview am Dienstagabend zumindest derzeit für wenig realistisch.

Allerdings solle sich diese Garantie nicht auf die von Russland schon lange einverleibte Schwarzmeerhalbinsel Krim mit der strategisch wichtigen Stadt Sewastopol oder die abtrünnigen Gebiete Luhansk und Donezk beziehen, betonte Verhandlungsführer Medinski. "Das heißt, dass die Ukraine auf ihr Streben verzichtet, sich die Krim und Sewastopol mit militärischen Mitteln zurückzuholen", sagte Medinski in Istanbul.

Ukraine will weiterhin EU-Beitritt – USA skeptisch

Die ukrainischen Unterhändler bestätigten, dass die Ukraine einen neutralen Status des Landes gegen Sicherheitsgarantien angeboten habe. Die Ukraine würde damit auch auf die Schaffung ausländischer Militärbasen im Land verzichten. Kiew möchte aber weiterhin Mitglied der EU werden können. Zudem sollte für die von Russland 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim eine 15-jährige Prüfphase vereinbart werden, in der keiner gewaltvolle Mittel einsetzen dürfe.

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Die USA stellten trotz der Annäherung bei den russisch-ukrainischen Gesprächen die "Ernsthaftigkeit" der Friedensbestrebung Moskaus infrage. Schließlich würden die brutalen Kämpfe andauern, hieß es vonseiten des Außenministers Anthony Blinken.

Laut ersten Informationen seitens des Pentagons und des Weißen Hauses handle es sich bei der Ankündigung, die militärische Aktivität rund um Kiew und Tschernihiw "drastisch zu verringern", zumindest rund um Kiew eher um eine kurzfristige Umgruppierung. Inwiefern eine langfristige Strategieänderung abzuleiten ist – wie andere US-Offizielle im Laufe des Dienstags auch schon behaupteten –, ist noch ungewiss. Man warte nach den bloßen Worten ab, ob Taten folgen, hieß es von offizieller Seite nur. Das Pentagon blieb deutlich pessimistischer und warnte gar vor einer Finte und russischen Militäroffensiven in anderen Landesteilen.

Thesen von Timothy Snyder

Bis die Waffen tatsächlich schweigen, könnte aber noch einiges an Zeit vergehen. Der US-Osteuropaforscher Timothy Snyder, Professor an der Yale University und Forschender am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), hat in einem vielbeachteten Twitter-Thread Thesen über die Lage in der Ukraine nach viereinhalb Wochen Krieg postuliert. DER STANDARD hat die drei wichtigsten mit der Situation auf dem Feld abgeglichen:

These: Wladimir Putin hat die Eigenstaatlichkeit der Ukraine massiv unterschätzt.

Seit Kriegsbeginn hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Widerstand gegen die russische Militärmaschinerie ein Gesicht gegeben. Auch aus dem von der Kreml-Propaganda herbeigesehnten freudigen Empfang für die an der "Spezialoperation" beteiligten russischen Truppen in der Ukraine wurde bekanntlich nichts. Die Invasion hat das Nationalbewusstsein der Ukraine stärker gefestigt, als es zu Friedenszeiten je möglich gewesen wäre.

These: Die Invasion war nur mit wenigen Menschen abgesprochen.

Am Wochenende kursierten Gerüchte, wonach Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu nicht freiwillig zwei Wochen lang aus der Öffentlichkeit verschwunden war. Er soll nach einem Rüffel durch Putin einen Herzinfarkt erlitten haben. Ganz gleich, ob diese medizinische Ferndiagnose zutrifft oder als Propaganda firmiert: Es läuft nicht mehr rund im Kreml. Snyder geht davon aus, dass Putin mittlerweile geleakten Geheimdienstinformationen die Schuld daran gibt, dass die Ukraine so gut auf den Überfall vorbereitet war. Sergej Beseda, Chef der internationalen Spionage beim Geheimdienst FSB, soll unter Hausarrest stehen – was Snyders These erhärten würde.

These: Putin hat nicht mit so harten Sanktionen des Westens gerechnet.

Eigentlich, so Snyder, hätte Russland schon nach zwei Tagen eine Marionettenregierung in Kiew installieren wollen – um mit dieser dann bequem zu verhandeln. Nun muss es mit durchaus selbstbewussten Selenskyj-Vertretern sprechen. Sogar der russische Oligarch Roman Abramowitsch sitzt jetzt als Vermittler mit am Tisch. Putin hat nicht nur die Ukraine, sondern auch den Westen unterschätzt. Seine Invasion steckt auch deshalb fest, weil sich die USA und Europa einig wie selten zuvor gezeigt haben. (Florian Niederndorfer, red, 30.3.2022)

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