Armin Wolf in einer "ZiB 2 History" mit dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, Christoph Grabenwarter.

Foto: Screenshot ORF TVthek

Wien – Armin Wolfs Schlüsse über die Verfassungswidrigkeit des ORF-Stiftungsrats gingen dem Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts ein gutes Stück zu weit. Wolf veröffentlicht den Befund der Rechtsexperten in seinem Blog. Den Journalisten und Politologen Wolf überzeugen die Argumente nicht, schreibt er.

Wolf fand ein interessantes Zitat in einem Fachbeitrag des österreichischen Rundfunkrechtlers Christoph Grabenwarter zum deutschen Staatsgrundgesetz über die Rundfunkfreiheit. Grabenwarter ist seit 2020* Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs.

Grabenwarter schrieb 2018*: "Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Artikel 10 EMRK verletzt", also der Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention über die Freiheit der Meinungsäußerung. Weil die Menschenrechtskonvention in Österreich im Verfassungsrang steht, schloss Wolf wie berichtet, dass der Stiftungsrat "offenkundig verfassungswidrig" zusammengesetzt sei.

"Aus dem Gesamtzusammenhang gerissen"

Der Verfassungsdienst schreibt in seiner Stellungnahme zu Wolfs Interpretation: "Resümierend lässt sich daher feststellen, dass das aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissene Zitat dem Autor des Gesetzeskommentars eine Rechtauffassung zum ORF‑Gesetz unterstellt, die dieser gar nicht geäußert hat."

Grabenwarters Zitat stamme aus einem Abschnitt des Fachkommentars zum deutschen Staatsgrundgesetz über Anforderungen an die Zusammensetzung von Rundfunkorganen für die effektive Gewährleistung der Programmvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, betont der Verfassungsdienst: "In einem abschließenden Absatz erwähnt Grabenwarter schließlich unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Manole, dass auch Art. 10 EMRK die Vielfalt im Rundfunk gewährleistet und diese Pflicht nicht dadurch unterwandert werden dürfe, dass eine gewichtige Gruppe innerhalb der Rundfunkanstalt Druck auf die Veranstalter ausüben kann." Hier kommt das von Wolf verwendete Zitat.

Moldawien-Urteil

In diesem Manole-Urteil stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Moldawien die Konvention verletzt habe "wegen unmittelbarer Einflussnahme der kommunistischen Partei in Moldawien auf die redaktionelle Tätigkeit von Journalisten der im moldawischen Staatseigentum stehenden Rundfunkanstalt TRM".

Konkret wurde eine Reihe leitender Angestellter durch regierungstreue Mitarbeiter ausgetauscht, die Verwendung bestimmter Phrasen – wie etwa "totalitäres Regime" – und die Berichterstattung über bestimmte Themen und Ereignisse verboten. Verstöße gegen diese Verbote wurden disziplinar rechtlich sanktioniert und in mehreren Fällen mit Abberufungen von Nachrichtensprechern geahndet, referiert der Verfassungsdienst.

"Die Organe der Rundfunkanstalt TRM bestanden aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und dem Aufsichtsrat, die allesamt von einem sogenannten Koordinationsrat bestellt wurden. Dieser wiederum bestand aus neun Mitglieder, wovon jeweils drei vom Präsidenten, dem Parlament und der Regierung bestellt wurden. Die kommunistische Partei stellte sowohl die Alleinregierung also auch den Präsidenten und verfügte im Parlament über eine absolute Mehrheit. Somit wurden alle neun Mitglieder des Koordinationsrates und damit sämtliche Organe der Rundfunkanstalt von der kommunistischen Partei bestellt."

Und: "Vor dem Hintergrund dieser einseitigen Bestellung durch eine Partei in Verbindung mit der direkten Einflussnahme der Organe auf die redaktionelle Tätigkeit der Rundfunkanstalt (und angesichts des Umstandes, dass TRM in diesem Zeitraum die einzige Rundfunkstation in Moldawien war), stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest."

ORF "nicht vergleichbar" mit Konstellation in Moldawien

Grabenwarters Ausführungen würden sich "eindeutig auf den Sachverhalt in der Rechtssache Manole beziehen, die aber in keiner Weise mit der österreichischen Situation in keiner Weise vergleichbar ist", schreibt der Verfassungsdienst in seiner Information an die Medienministerin, die Wolf nun in seinem Blog publiziert. "So wurden in der Rechtssache Manole alle Mitglieder des Koordinationsrates sowie alle weiteren Organe der Rundfunkanstalt von einer Partei bestellt; ferner resultierte die vom EGMR festgestellte Verletzung von Art. 10 EMRK insbesondere auch aus der direkten Einflussnahme auf die redaktionelle Tätigkeit."

Die Überlegungen Wolfs vernachlässigten daher laut Verfassungsdienst, "dass die auf Art. 1 Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes über die Unabhängigkeit des Rundfunks zurückgehenden Bestimmungen des ORF-Gesetzes einerseits die Unabhängigkeit aller programmgestaltenden Mitarbeiter (§ 32 ORF-G) absichern und andererseits die Weisungsfreiheit der Organe ausdrücklich in § 19 Abs. 2 ORF-G gewährleisten. Diese gesetzliche Konzeption wird durch die Inkompatibilitätsbestimmungen in § 20 Abs. 3 und § 28 Abs. 2 ORF-G ergänzt. Schließlich ist auch der im Wesentlichen seit 1974 geltende Bestellungsmodus der Organe nach dem ORF-Gesetz nicht mit der Konstellation in der Rechtssache Manole vergleichbar."

Auch der Verfassungsjurist Klaus Poier, Mitglied des Stiftungsrats für das Land Steiermark, sprach im Stiftungsrat von einer "Fehlinterpretation" Wolfs.

"Nicht sehr überzeugend"

Armin Wolf kommentiert die Befunde der Verfassungsjuristen als "nicht sehr überzeugend", auch wenn er "leider kein Verfassungsjurist" sei. Und er verweist in seinem Blog darauf, dass der Verfassungsdienst jenes ORF-Gesetz verteidige, das er selbst vor Beschlussfassung geprüft habe. Und Poier sei als Vertreter des Landes Steiermark "von der Regierungspartei ÖVP nominiert".

Grabenwarter beziehe sich in der von ihm zitierten Passage "nur mittelbar" auf den Fall aus Moldawien. Wolf: "Vor allem aber habe ich keinen Text über diesen konkreten Fall zitiert und auch keinen über die Rechtssprechung des EGMR, sondern einen Kommentar Grabenwarters zur Rundfunkfreiheit in Deutschland."

Die deutsche Situation unterscheide sich nicht wesentlich von jener in Österreich, argumentiert Wolf (in Deutschland beschränkte allerdings 2014 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Anteil staatsnaher Mitglieder in Rundfunkgremien auf ein Drittel). Nun ist die deutsche Situation aber nicht wesentlich anders als in Österreich (und uns jedenfalls sehr viel ähnlicher als Moldawien).

Grabenwarter habe es offenkundig in seiner grundlegenden Analyse zur "Staatsferne" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland "sinnvoll und notwendig" gefunden, "auch die Vorgaben durch die Europäische Menschenrechtskonvention zu erwähnen – und sehr klar zusammenzufassen: 'Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art. 10 EMRK verletzt.'"

Wolf: "Ich weiß nicht genau, wie sich dieser unmissverständliche Satz in einen Kommentar zur Rundfunkfreiheit in Deutschland verirren sollte, ginge es dabei ausschließlich um den Fall Manole und die 'in keiner Weise vergleichbare' Situation in Moldawien. (...) Da die EMRK aber Teil der österreichischen Verfassung ist, halte ich Grabenwarters klare Feststellung auch hierzulande für relevant."

Der ORF-Journalist räumt ein, dass ORF-Stiftungsräte laut Gesetz weisungsfrei und unabhängig seien. Aber: "Leider wird diese formelle Unabhängigkeit in der Praxis aber nachhaltig unterlaufen: Durch die Organisation in Partei-'Freundeskreisen', durch ein gesetzliches Verbot geheimer Abstimmungen, durch das fast durchgängige Stimmverhalten entlang der Fraktionslinien und durch die Vorab-Festlegung von Stiftungsrat-Entscheidungen in Sideletters zu Koalitionsvereinbarungen." Nachsatz: "Österreichische Realverfassung eben."

Wolf zitiert dazu Magdalena Pöschl, Professorin für Verfassungsrecht an der Uni Wien, die 2014 in einer Analyse zur "Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk" schrieb: "Alles in allem ist der Stiftungsrat (…) ein Gremium, das nur in Ansätzen pluralistisch besetzt ist. Selbst diese bescheidenen Ansätze kommen aber nicht zum Tragen, weil der Stiftungsrat nahezu ausnahmslos mit einfacher Mehrheit entscheidet und weil zudem geheime Abstimmungen nicht zulässig sind; so setzen sich in aller Regel jene Stiftungsräte durch, die den Regierungsparteien nahestehen."

Und er schließt mit: "Umso neugieriger wäre ich auf eine unabhängige Interpretation durch das Verfassungsgericht." (fid, 29.3.2022)