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Boris Johnson und sein Nato-Vertreter Ben Bathurst.

Foto: Reuters / Henry Nicholls

"Bestie" nennen Engländer ihren derzeit besten Freund. Premierminister Boris Johnson hat seit einigen Wochen einen neuen Bestie: Wolodymyr Selenskyj. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass sich das Paar über die neuen Entwicklungen im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine austauscht. Und weil dies ein eminent politischer Bestie ist, erfährt die Londoner Presse brühwarm von den stets freundlich verlaufenden Telefonaten.

Nachzulesen war in den Medien auch schon, dass der britische Regierungschef einen Überraschungstrip nach Kiew erwäge, um seinem Bestie auch persönlich den Rücken zu stärken. Sicherheitsbedenken dürften, jedenfalls bisher, überwogen haben, jedenfalls ist es zuletzt still geworden um den Plan, es den Regierungskollegen von Polen, Tschechien und Slowenien nachzutun.

Einstweilen schwärmt Johnson in London von seinem "brillanten" Freund, mit dem er längst per du ist. "Wolodymyr" besitze geradezu "Churchill’sche Fähigkeiten", sein Volk gegen die Invasoren zu mobilisieren – solcherlei Vergleich mit dem britischen Kriegspremier Winston Churchill (1874–1965) gilt auf der Insel als höchstes Kompliment. Natürlich diskutiere er mit dem Ukrainer über auch diplomatische Lösungen. Aber vorrangig für den Westen sei militärische Hilfe, erläuterte Johnson der BBC mit einem seiner farbigen Vergleiche: "Wir müssen die Stacheln des ukrainischen Stachelschweins stärken." Bezug nimmt er damit auf die "Porcupine-Strategy", die nach dem widerborstigen Nagetier benannt ist und mit der die Armee eines besetzen Staates etwa via Guerilla-Taktiken versucht, es den Besatzern so schwer wie möglich zu machen.

Eifrige "Antirussen"

Die schönen Komplimente werden aus Kiew erwidert. Johnson gebe anderen westlichen Staaten "ein Beispiel", hat Selenskyj den besuchenden Journalisten des Magazins "Economist" gesagt. Bestätigt wird der Angegriffene vom Aggressor. In Moskau gelte der Engländer als "eifrigster Teilnehmer im Rennen der Antirussen", hat Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zu Protokoll gegeben. Dies sei Unsinn, heißt es dazu in London: "Wir sind aktiv gegen Putin, aber in keiner Weise antirussisch."

Wahr ist: Das Königreich warnte schon früh vor der russischen Invasion und schickte – unter Umgehung des deutschen Luftraums – Defensivwaffen in die Ukraine, als Deutschland und Frankreich noch mit Abwiegelei beschäftigt waren. "God save the Queen", rufen ukrainische Infanteristen, wenn sie britische Panzerabwehrwaffen abfeuern. Demnächst sollen sie zusätzlich Boden-Luft-Raketen vom Typ Starstreak erhalten.

Die Hilfe von der Brexit-Insel beschränkt sich nicht auf Militärisches. Dem ukrainischen Staatshaushalt hat London 100 Millionen Dollar zugeschossen. Außenministerin Liz Truss hat eine Lieferung von dringend benötigtem Trockenobst, Konserven und Trinkwasser für belagerte Städte auf den Weg gebracht. Bei der Flüchtlingshilfe hingegen hinkt die inkompetente Innenministerin Priti Patel hinterher. Als einziges Land in Europa beharrt Großbritannien auf einem Visum für Ukrainer. 150.000 Bürger haben Kriegsflüchtlingen Wohnraum angeboten, 20.000 konnten das komplizierte Genehmigungsverfahren online bewältigen. Aber erst 2.000 Visa wurden bewilligt.

Schlechte Vergleiche

Ähnlich zögerlich agierten die Konservativen zunächst bei der Verhängung von Sanktionen gegen jene russischen Oligarchen, die der Hauptstadt den wenig schmeichelhaften Beinamen "Londongrad" eingebracht haben. Und auf peinliche Weise lächerlich machte sich Johnson mit einer Parteitagsrede, bei der er den Ukraine-Krieg mit dem britischen EU-Austritt verglich. "Bitte, Herr Johnson, keine solchen Vergleiche", mahnte Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko im britischen Fernsehen.

Die politische Szene in London hat wenig Zweifel daran, dass Johnsons Umarmungsstrategie gegenüber der Ukraine und ihrem Präsidenten auch sachfremde Motive hat. Bis die russische Invasion zur Tatsache wurde, schien die Position des Konservativen gefährdet durch immer neue Enthüllungen zu den Lockdown-Partys in der Downing Street. Am Dienstag erließ die Kriminalpolizei 20 Strafbefehle gegen Beteiligte, und prompt erneuerte die Opposition ihre Rücktrittsforderungen an den Premierminister. Johnson war – einstweilen? – nicht betroffen, wie ein Sprecher erleichtert mitteilte. Durch Vorlage seines Terminkalenders und Gesprächsnotizen hat er dem Vernehmen nach den Eindruck zu erwecken versucht, seine Teilnahme an den illegalen Events sei sporadisch gewesen und habe der Aufrechterhaltung eines guten Arbeitsklimas während der Pandemie gedient.

Lieber keine Angst

Selenskyj ist klug genug, zu wissen, dass sein Londoner Bestie eigene Interessen verfolgt. Großbritannien gehöre, so die Analyse des Kiewers, zu jenen Nato-Staaten, die eindeutig auf seiner Seite stehen und Russlands Niederlage anstreben. Ob die Briten dafür einen langen Krieg in Kauf und wenig Rücksicht auf ukrainische Menschenleben nehmen? Das könne er noch nicht sagen, hat der Präsident beim "Economist" angegeben.

Dennoch scheint ihm das Vorgehen Johnsons und seiner Regierung lieber zu sein als die Äußerungen und – mangelnden – Taten vergleichbar großer Europäer. Die Franzosen hätten "Angst vor Russland", Deutschland lasse sich von wirtschaftlichen Interessen leiten und verfolge eine Balancepolitik. Beides findet Selenskyj begreiflicherweise falsch. (Sebastian Borger aus London, 30.3.2022)