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Einst war er Premierminister Frankreichs, 2017 trat Manuel Valls wollte für die Sozialistische Partei als Präsidentschaftskandidat an – scheiterte aber bereits im parteiinternen Vorwahlkampf. Vor der Präsidentschaftswahl kritisiert er die Sozialdemokraten und die Linken, sieht die extreme Rechte so stark wie noch nie und warnt Amtsinhaber und Favorit Emmanuel Macron.

STANDARD: Frankreich wählt – gezeichnet von einer Pandemie, überrumpelt durch einen Krieg in Europa. Sind das noch normale Wahlen?

Valls: Im demokratischen Sinn schon. Frankreich führt nicht selber Krieg und ist nicht angegriffen worden. Doch das Umfeld ist schon außergewöhnlich. Die Spannung ist groß. Der ganze Planet ist betroffen, diplomatisch wie ökonomisch, mit Risiken für die Ernährung ganzer Weltteile wie Afrika oder Maghreb. Auch in Frankreich weiß niemand, was herausschauen wird. Das befördert Ängste. Insofern lastet dieser Krieg schon auf der Wahl in Frankreich.

STANDARD: Der Krieg beeinflusst die Wahlchancen mehrerer Kandidaten – negativ für die Populisten, positiv für Präsident Macron. Hat er die Wahl nun sicher?

Valls: Emmanuel Macron legt eine präsidiale Statur an den Tag und vermittelt den Franzosen das Gefühl, dass man ihm "die Schlüssel des Hauses" überlassen könne. Aber auch wenn der Staatschef gute Chancen hat, muss er aufpassen. Denn wenn die Wähler kaum an die Urnen gehen und so ihr Desinteresse zeigen, wäre das fatal für seine zweite Amtszeit. Und eine Gefahr für Frankreich.

STANDARD: Inwiefern?

Valls: Frankreich ist gespalten, vom Populismus bedroht und leicht entzündbar. Die Inflation und die Energiepreise könnten in neue Sozialproteste münden. Die Gelbwestenkrise vor drei Jahren wurde ja auch durch eine Benzinpreiserhöhung ausgelöst. Die Gelbwesten sind zwar in der Bevölkerung minoritär; aber sie drücken ein verbreitetes Gefühl aus und erhalten Zulauf von Impfgegnern, Fernfahrern, Verschwörungstheoretikern, Extremisten. Die Parteien und Gewerkschaften werden dagegen immer schwächer. Da kommt schon etwas auf Frankreich und seinen nächsten Präsidenten zu – nach der Wahl.

STANDARD: Vor allem, wenn Macron wiedergewählt wird?

Valls: Dem Präsidenten ist es in der Tat nicht gelungen, die Franzosen miteinander und mit der Politik zu versöhnen. Außerdem muss er aufgeschobene Reformen etwa des Pensionssystems endlich anpacken. Selbst wenn Macron wiedergewählt wird, sind die Leute sehr unzufrieden mit ihm.

STANDARD: Macron ist bei vielen Landsleuten geradezu verhasst. Wie kommt das?

Valls: Es gibt in Frankreich eine exzessive Zurückweisung der Politiker – ich habe das selber erlebt – und auch des Erfolgs. Macron reüssierte in jungen Jahren, und zwar so rasant wie noch kaum jemand vor ihm. Er verkörpert auch das Kapital – er arbeitete bei Rothschild –, was antisemitische Reflexe weckte. Vor allem zu Beginn seiner Amtszeit fiel Macron zudem mit verächtlichen Sprüchen negativ auf. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die persönliche Animosität gegen ihn in den letzten Monaten eher am Abnehmen ist – pandemiebedingt, nun auch kriegsbedingt.

STANDARD: Heißt das für Macron: Wiederwahl, aber zugleich mehr Widerstand gegen ihn?

Valls: Momentan scheint es, dass er wiedergewählt wird. Offen ist, ob er bei der folgenden Parlamentswahl auch eine Regierungsmehrheit erhält. Seine Partei La République en marche ist im Land nirgends verwurzelt. Und die Lage ist sehr labil. In Frankreich krankt die Demokratie ähnlich wie in den USA an den Trumpisten.

STANDARD: Zu sehen in Éric Zemmour, dem Phänomen dieses Wahlkampfs. Aber jetzt verliert er in den Umfragen an Boden.

Valls: Weil sich nun Zemmours wahres Gesicht zeigt. Jetzt, da die Russen die Ukraine angreifen, stößt es auch Sympathisanten auf, dass Zemmour nach einem "französischen Putin" gerufen hat. Außerdem nimmt er eine unmenschliche Haltung gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen ein.

STANDARD: Warum ist er im Wahlkampf überhaupt hochgekommen?

Valls: Weil Frankreich seine Probleme nie geregelt hat: Islamismus, unkontrollierte Einwanderung. Zemmour schlachtet auch verbreitete Gefühle des sozialen und nationalen Niedergangs aus. Wie die Partei Vox in Spanien, wie die Lega Nord und die Fratelli in Italien oder wie Viktor Orbán in Ungarn. Diese Populisten sind gut darin, die Probleme zu benennen, aber unfähig, Lösungen aufzuzeigen.

STANDARD: Sie werfen Zemmour in Ihrem neuen Buch vor, antirepublikanisch zu sein. Warum?

Valls: Zemmour stellt die Dreyfus-Affäre von 1906 infrage. Zu sagen, Dreyfus sei vielleicht nicht ganz unschuldig gewesen, ist zutiefst antirepublikanisch. Zudem verteidigt Zemmour den antirepublikanischen Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain. Er behauptet, Pétain habe sich mit Résistance-Chef Charles de Gaulle ab 1940 die Arbeit für Frankreich geteilt – und Juden gerettet. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern auch antirepublikanisch.

STANDARD: Was bezweckt Zemmour mit dieser Geschichtsverdrehung?

Valls: Sein großes Ziel ist es, die Konservativen und die extreme Rechte nach der Wahl zu vereinen. Er will den historischen Graben zwischen Gaullisten und Pétainisten zuschütten und die beiden seit dem Weltkrieg verfeindeten Strömungen in einer einzigen, mächtigen Rechtspartei vereinen.

STANDARD: Ist es nicht seltsam, dass der Ukraine-Krieg Zemmour geschadet hat, nicht aber der Rechtspopulistin Marine Le Pen? Sie könnte wie schon 2017 in den zweiten Wahlgang vorstoßen.

Valls: Ja, das wirkt paradox – schließlich ist es Le Pen, die mit Wladimir Putin besonders eng befreundet ist und von einer ihm nahestehenden Bank sogar einen Millionenkredit erhalten hat. Die Erklärung für Le Pens starke Stellung liegt wohl darin, dass der Hardliner Zemmour die ihm politisch verwandte Kandidatin als geradezu gemäßigt erscheinen lässt.

STANDARD: Sie wirft ihm sogar vor, er dulde Nazis in seiner Partei.

Valls: (lacht) Sie kennt diese Nazis umso besser, als die früher in ihrer eigenen Partei, dem Front National, gewesen waren.

STANDARD: Warum gibt sich Le Pen heute so samtweich?

Valls: Das ist pure Kommunikation. Sie weiß, dass sie im TV-Streitgespräch von 2017 gegen Macron schlecht abschnitt, als sie sehr aggressiv auftrat. Jetzt versucht sie enttäuschte Wähler der Konservativen und der Linken anzusprechen.

STANDARD: Hat sie damit Erfolg?

Valls: Das wird sich zeigen. Tatsache ist: Le Pen gewinnt vor allem Wähler aus den sozial benachteiligten Schichten, während die Bessergestellten eher Zemmour zuneigen. Klar ist aber jetzt schon, dass die drei Rechtskandidaten, wenn man Nicolas Dupont-Aignan dazuzählt, auf 30 bis 33 Prozent der Stimmen kommen. So zerstritten sie sind, verleihen sie ihrem Lager zusammengenommen eine starke Dynamik. Wer auch immer in den zweiten Wahlgang gegen Macron verstößt, profitiert von den Stimmen der anderen. Das ist sehr beunruhigend. Die extreme Rechte war in Frankreich noch nie so stark wie heute. Bisher kam sie zweimal in die Stichwahl: 2002 erhielt Jean-Marie Le Pen 18 Prozent der Stimmen, 2017 seine Tochter Marine Le Pen knapp 34 Prozent. Jetzt werden den Rechtsextremen im zweiten Wahlgang 40 bis zu 45 Prozent vorausgesagt. Das ist enorm.

STANDARD: Valérie Pécresse, die Kandidatin der bürgerlichen Républicains, kommt dagegen nicht vom Fleck.

Valls: Sie leidet unter ihrer alten Partei Les Républicains und deren Querelen. Vermutlich schafft sie es gegenüber den diversen Populisten nicht in den zweiten Wahlgang. Dabei könnte sie dort mit ihrem klaren Rechtskurs sogar Macron ausstechen. Ein weiteres Paradox.

STANDARD: Die französische Politik ist sehr männlich geprägt. Kann es da eine Frau überhaupt in den Elysée-Palast schaffen?

Valls: Ich glaube schon. Ségolène Royal hatte bereits 2007 gute Chancen gegen Nicolas Sarkozy. Heute gibt es mehr Kandidatinnen denn je – Le Pen, Pécresse, die Sozialistin Anne Hidalgo. Sie sind stark bei Themen wie Lohnungleichheit oder Gewalt gegen Frauen.

STANDARD: Zemmour reüssiert allerdings auch deshalb, weil er sich als Antifeminist präsentiert.

Valls: Er profitiert auch von den Exzessen des neuen Feminismus und Antirassismus. In Italien und Spanien gibt es dieses im wahrsten Wortsinn reaktionäre Phänomen auch bei vielen männlichen Wählern.

STANDARD: Bei den französischen Linken ist Jean-Luc Mélenchon zum Schluss auf dem Vormarsch. Hat er Chancen?

Valls: Mélenchon ist ein talentierter Volkstribun, aber für Republikaner wie mich nicht tragbar mit seinen "rassistischen" Thesen und dem Umstand, dass er das Satiremagazin "Charlie Hebdo" nicht stärker gegen die Islamisten verteidigte. Deshalb kann er nicht die ganze Linke vertreten und eigentlich nicht gewinnen. Selbst wenn er in den zweiten Wahlgang vorstoßen sollte.

STANDARD: In Deutschland, Skandinavien, Spanien und Portugal haben es Sozialdemokraten an die Macht geschafft. Warum sind sie in Frankreich weit davon entfernt?

Valls: Die Sozialdemokraten gewinnen die Wahlen überall dort, wo sie bereit sind, die neuen Realitäten zu akzeptieren und Regierungsverantwortung zu übernehmen. Nehmen Sie die dänischen und nordischen Sozialdemokraten: Die sind sehr sozial, sehr ökologisch und hart in Immigrationsfragen. Damit gewinnen sie die Wahlen. In Spanien hat sich die Sozialistische Partei gegen Podemos durchgesetzt, in Deutschland die SPD gegen die Partei von Oskar Lafontaine. In Frankreich ist es umgekehrt: Dort verdrängen Mélenchons "Unbeugsame" den Parti Socialiste, der mit Anne Hidalgo gerade einmal bei drei Prozent liegt. Die französische Linke ist inhaltlich zu zerstritten, um vereint anzutreten und zu gewinnen.

STANDARD: In Frankreich kommt Hidalgo aber auch dann nicht an, wenn sie das Wort "sozialdemokratisch" benutzt, das in Frankreich den negativen Beigeschmack des Reformismus hat.

Valls: Das ist das Drama der französischen Linken. Die Kompromissfähigkeit der deutschen SPD, wie sie in ihrem Koalitionsvertrag zum Ausdruck kommt, gilt in Paris als schändlich. In Frankreich verliert die Linke lieber die Wahlen. Und dann behauptet sie, das sei nur wegen der feigen Kompromisse passiert. Also radikalisiert sie sich noch stärker – und verliert die nächsten Wahlen hoch höher. Das habe ich als Premierminister selber erlebt.

STANDARD: In einer vielbeachteten Kolumne haben Sie Mélenchon und den "Woke-Flügel" von Christiane Taubira für das Wahlfiasko des Linkslagers verantwortlich gemacht.

Valls: Ja, denn diese Linke hat keine Antwort auf zentrale Fragen wie den Wandel des Kapitalismus, die nationale Identität oder die Folgen der 9/11-Anschläge.

STANDARD: Sie sind ein Anhänger der allgemeingültigen, universellen Menschenrechte. Was werfen sie den Verfechtern einer "identitären" Minderheitspolitik für Frauen, Schwarze, Einwanderer oder LGBTs vor?

Valls: Sie haben den Kampf für die Arbeiter durch das Engagement für die neuen Einwanderer ersetzt. Damit übernehmen sie auch Anliegen wie das islamische Kopftuch. Als Linker, der für den Laizismus und die Trennung von Kirche und Staat eintritt, kann man aber nicht für eine religiöse Gemeinschaft eintreten. Das Kopftuch ist auch nicht emanzipatorisch. Die Linke täte besser daran, den politischen Islamismus zu bekämpfen. Trotz der Anschläge auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion haben das aber noch nicht alle begriffen.

STANDARD: Noch einmal zum Ukraine-Krieg: Teilen Sie Macrons Meinung, dass man mit Wladimir Putin weiter sprechen sollte?

Valls: Ja, denn Macron hat es dadurch geschafft, Europa in die Debatte einzubringen. Die Auseinandersetzung findet auf europäischem Boden statt, mit Folgen für Europa. Man kann das nicht den USA überlassen, zumal sich unsere strategischen Interessen nicht überschneiden. Unser Interesse besteht darin, Russland zu integrieren, nicht, es in die Arme Chinas zu treiben.

STANDARD: Kann man Russland verstehen, auch wenn man nie ein Putin-Versteher war?

Valls: Deutschland und Frankreich können die russische Haltung verstehen – allerdings nicht aus den gleichen Gründen. Deutschland ist durch den Fall der Mauer sowohl geopolitisch als auch industriell näher an den Osten gerückt. Frankreich hat historisch enge Bande mit Moskau, von Katharina der Großen über Voltaire und die napoleonischen Kriege bis zu de Gaulles Beziehung zu Stalin – das zählt. Natürlich müssen wir Russland verstehen, auch den Verlust seines Supermachtstatus, seine schmerzvolle Dekadenz. Aber seien wir nie naiv mit Moskau. Und vergessen wir nie die Polen und Balten, vergessen wir nie, dass die Ukraine zum Teil auch sehr "europäisch" denkt. Ihre Finnlandisierung könnten wir nicht zulassen. (Stefan Brändle aus Paris, 30.3.2022)