Die Umwelt prägt den Orientierungssinn. In Chicago, wie hier im Bild, eher mangelhaft.

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Was bestimmt unsere Fähigkeiten, uns im Raum zu orientieren? Ist es das Geschlecht? Wird die Fähigkeit vererbt? Oder ist es doch die Umwelt? Antworten auf diese Frage liefern seit einigen Jahren Menschen, die sich auf ihrem Handy mit "Sea Hero Quest" ("Suche nach dem Seehelden") die Zeit vertreiben. Das Spiel, das von einem internationalen Wissenschaftskonsortium gemeinsam mit der Firma Glitchers und mit Unterstützung der Deutschen Telekom 2016 entwickelt wurde, dient nämlich nicht nur zur Unterhaltung.

AlzheimersResearch UK

Wenn die Spielerinnen und Spieler mit einem virtuellen Boot von Insel zu Insel navigieren oder Eisbergen ausweichen, werden Daten für die Wissenschaft generiert – ursprünglich vor allem für die Demenzforschung. Denn der Verlust an Orientierungsfähigkeit gilt bei Alzheimer und anderen neurodegenerativen Krankheiten nämlich als ein erstes mögliches Warnsignal.

Das Spiel erfreute sich rasch großer Beliebtheit und bestätigte eindrucksvoll, dass der Verlust an Orientierung ein Marker für altersbedingte Demenz ist. Doch die gewonnenen Daten ließen noch zahlreiche weitere Rückschlüsse zu.

Alter als Hauptfaktor

So konnte ein Forschungsteam um Hugo Spiers (University College London) bereits 2018 zeigen, dass unser Navigationsvermögen am stärksten vom Alter abhängt und über die Jahre langsam aber beständig abnimmt. Zudem korrelieren die Leistungen bei "Sea Hero Quest" stark mit dem Wohlstand des Landes, gemessen am Bruttoinlandsprodukt: Am besten schnitten Spielende aus den skandinavischen Ländern, aus Australien und Neuseeland sowie aus Nordamerika ab.

Schließlich zeigte sich auch, dass in jenen Ländern, in denen die Gleichstellung der Geschlechter besonders weit ist, Unterschiede bei den Navigationsleistungen zwischen Männern und Frauen praktisch nicht existent sind. Das Geschlecht scheint also, entgegen populärer Sachbuchtitel, in Sachen räumlicher Orientierung keine allzu wichtige Rolle zu spielen.

Umwelt als Einflussgröße

Diese ersten Ergebnisse legten damit nahe: Die Unterschiede im räumlichen Orientierungsvermögen sind nicht angeboren, sondern vielmehr umweltbedingt. Und genau das wird nun eine weiter Untersuchung mit den Daten von "Sea Hero Quest" recht überzeugend gestützt. Abermals hat ein internationales Team um Erstautor Hugo Spiers die Resultate von rund 400.000 Spielerinnen und Spielern aus 38 Ländern ausgewertet – diesmal allerdings nach ihrem konkreten Wohnort.

Die Hypothese der Forschenden: Auch die unmittelbare Umgebung, in der wir aufwachsen und leben, wirkt sich auf unseren Orientierungssinn aus. Die Studienergebnisse, die am Mittwoch im Fachblatt "Nature" erschienen, bestätigen auch diese Vermutung eindrucksvoll. Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind und dort leben, verfügen über signifikant bessere räumliche Orientierungsfähigkeiten als diejenigen, die in einem urbanen Umfeld leben.

Chicago versus Prag

Aber auch zwischen den Städterinnen und Städtern gab es Unterschiede. Personen etwa aus Prag, wo es organisch gewachsene und ungeordnete Straßenverläufe gibt, schnitten nur geringfügig schlechter ab als Personen aus ländlichen Gegenden. Bewohnerinnen und Bewohner von New York oder Chicago hingegen verfügen über einen Orientierungssinn, der in etwa so schlecht ist, wie der von fünf Jahre älteren Menschen aus ländlichen Gegenden.

In einer weiteren Teilstudie wollte die Forschungsgruppe schließlich herausfinden, ob sich Stadtmenschen besser in Umgebungen zurechtfinden, die mit ihrem Wohnort vergleichbar sind. Dafür entwickelte das Team eine urbane Version von "Sea Hero Quest", genannt "City Hero Quest".

Eine typische Szene im neuen Spiel "City Hero Quest".

Die Spielerinnen und Spieler mussten in einer virtuellen Umgebung durch städtische Straßen fahren, deren Anordnung von einfachen Gitternetzen bis zu verwinkelten Straßenlayouts reichte.

Ähnliche Umgebung hilft

Das Ergebnis: Personen, die in Städten mit gitterförmigem Grundriss aufgewachsen sind, waren besser in der Lage, sich in ähnlichen Umgebungen zurechtzufinden. Dieser positive Unterschied war freilich nicht so groß wie die negativen Unterschiede bei "Sea Hero Quest".

Die Forschenden liefern auch eine Erklärung, warum es den Orientierungssinn verbessern dürfte, wenn man in einem Ort mit komplexerem Straßen- und Wegenetz aufwächst. In den Worten von Co-Erstautor Antoine Coutrot (Universität Lyon): Man müsse in solchen Umgebungen immer wieder in verschiedenen Winkeln abbiegen und immer wieder neue Anhaltspunkte dazulernen, um die Orientierung zu behalten.

Wie sehr diese Fähigkeit durch Navis oder Google Maps leidet, hat die Studie freilich nicht erhoben. (Klaus Taschwer, 30.3.2022)