Die Lkws donnern Richtung Suwałki im Nordosten Polens, als sei der Teufel hinter ihnen her. Die Schlaglochpiste ist Teil der rund 1.700 Kilometer langen Europastraße 67, die von Tschechien über Polen und die baltischen Republiken bis nach Finnland führen soll. Doch die Via Baltica, wie sie auch heißt, besteht vor allem aus Baustellen und aufgerissenem Erdreich. Über hunderte Kilometer zieht sich die Schneise durch die grüne Landschaft.

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Litauischer Kontrollposten im Grenzland bei Druskininkai.
Foto: AP / Photo_Mindaugas Kulbis

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine fürchten viele in Litauen, dass die ehemalige sowjetische Republik das nächste Ziel sein könnte. Das Einfallstor könnte die "Suwałki-Lücke" sein, der nur rund 80 Kilometer lange polnisch-litauische Grenzabschnitt zwischen der hochgerüsteten russischen Exklave Kaliningrad im Norden und dem mit Russland verbündeten Belarus im Süden.

"Wir sitzen auf einem Pulverfass", sagt Renata Medeliene, Direktorin des Kulturzentrums im litauischen Grenzort Vilkaviškis. "Wir haben hier alle Angst", fährt die 48-Jährige fort, "immerhin ist Kaliningrad nur ein paar Kilometer entfernt. Aber wir arbeiten weiter, als würde es den russischen Krieg in der Ukraine und die aktuelle Bedrohung für uns nicht geben." Computerdesignerin Ingrida Bunikiene (48) kann seit Kriegsbeginn kaum noch schlafen: "Ich weiß nie, ob die Explosionen vom russischen Truppenübungsplatz in Kaliningrad kommen, oder ob die russischen Panzer schon vor meiner Tür stehen."

Alte Traumata

Im Kulturzentrum bereitet die Theaterregisseurin Daiva Kasulaitiene gerade ein neues Stück vor: "Doch jetzt kommen bei den Schauspielern die alten Traumata wieder hoch. Vilkaviškis war immer wieder Frontstadt. Hier zogen Soldaten und marodierende Banden durch. Nach dem Ersten Weltkrieg überfielen uns die Polen, im Zweiten Weltkrieg waren es die Deutschen und Russen." Die 55-Jährige fährt mit leicht zitternder Stimme fort: "Wir sind in die Nato und die EU eingetreten, weil wir keinen Krieg, keine Unterdrückung mehr wollen. Wir hoffen inständig, dass die Nato uns verteidigt."

Weiter geht es nach Marijampolė. In riskanten Manövern überholen einander immer wieder Lkws, Sattelschlepper und Autotransporter. Ihr Ziel: der einst größte Gebrauchtwagenmarkt Osteuropas in Marijampolė und der Grenzübergang Kirbatai–Kaliningrad. Militärfahrzeuge sind hier aber keine unterwegs.

Stasys L., der sich selbst "Veteran des Gebrauchtwagenhandels" nennt, klagt lautstark: "Seit die Russen weg sind, und jetzt auch noch die Ukrainer, geht hier gar nichts mehr. Der Krieg ist schlecht fürs Geschäft. Es geht aber schon seit Jahren bergab", räumt der 65-jährige Händler ein.

Wappnen für den Kriegsfall

Der kräftig gebaute Autohändler knöpft die schwarze Lederjacke zu. "Wenn die Nato die Ukraine nicht rettet, sind wir in Litauen als Nächste dran", ist er überzeugt. Ob er dann bleiben würde? "Die Suwałki-Lücke wird als Erstes zu sein. Man müsste versuchen, über den Ostseehafen Klaipėda rauszukommen."

Unter anderem an der Universität der besagten Stadt Klaipėda arbeitet Sicherheitsexperte Egidijus Papečkys. Seit einigen Jahren ist er auch Gebietskommandant der Litauischen Schützenunion im Bezirk Marijampolė. Šauliai, wie sie auf Litauisch heißt, ist ein paramilitärischer Verband, der 1919 entstand, als Polen die litauische Hauptstadt Vilnius besetzte und dem polnischen Staat einverleibte.

In der Sowjetzeit war Šauliai verboten, nach der Unabhängigkeit entstand die Schützenunion von neuem, sie ist heute die größte zivilgesellschaftliche Organisation Litauens. Das Angebot geht weit über die militärische Grundausbildung, wie sie auch reguläre Soldaten durchlaufen müssen, hinaus. Engagieren kann man sich auch im Zivilschutz, in Kultur, Bildung, der Armen- und Flüchtlingsfürsorge. Zurzeit hilft der Verband bei der Unterbringung und Verpflegung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und organisiert Kurse für den Fall eines russischen oder belarussischen Angriffs auf Litauen: Was gehört ins Fluchtgepäck? Welche Papiere muss ich mitnehmen? Wo kann ich lernen, mich und meine Familie zu verteidigen?

Trügerische Idylle: Die Grenze zwischen Polen und Litauen, "Suwałki-Lücke" genannt, gilt als militärisch brisant.
Foto: AFP / picturedesk.com / Janek Skarzynski

"In Belarus sind rund 30.000 russische Soldaten stationiert", berichtet Papečkys. "Zudem hat Alexander Lukaschenko den Russen erlaubt, ihre Raketenstellungen im Krieg gegen die Ukraine zu nutzen. Wir haben es also mit zwei Aggressorstaaten zu tun: Russland und Belarus. Beide sind unsere Nachbarn. In der EU und in der Nato sind sich alle bewusst, dass die Suwałki-Lücke die derzeit größte Gefahr für das Bündnis darstellt."

Litauen selbst habe seinen Verteidigungshaushalt bereits auf zweieinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht. Aber auch die Nato müsse ihre Anstrengungen zum Schutz der baltischen Republiken verstärken. In Litauens Armee dienten rund 16.000 Soldaten, hinzu kämen noch einmal rund 15.000 Schützen, die im Fall eines Krieges voll in die Armee integriert würden. Zudem seien inzwischen rund 4.000 Nato-Soldaten unter Führung Deutschlands in Litauen stationiert.

"Verteidigen, nicht angreifen"

"Die Ukrainer sind uns ein großes Vorbild. Sollten wir angegriffen werden, werden wir uns und unser Land verteidigen. Wir werden kämpfen." Die Nato sei auf diesen Fall vorbereitet, meint der 51-jährige Sicherheitsexperte. Und klar sei, dass die gesamte Nato in den Krieg eintreten werde, sollte Litauen angegriffen werden. Das garantiere die Beistandsklausel des Nato-Vertrags.

"Niemand weiß, ob es am Ende nicht doch dazu kommt. Aber die Nato wird diesen Krieg nicht von sich aus beginnen. Wir entscheiden gemeinsam, wie wir uns verteidigen werden", so Papečkys. "Ich betone: Verteidigen, nicht angreifen!"

Die schmale Straße führt durch einen lichten Wald weiter nach Lazdijai. Rechts und links wölbt sich die Erde auf, als sei ein Riesenmaulwurf unterwegs gewesen. Gletscher formten diese Moränenlandschaft mit den vielen Hügeln, Seen und Sümpfen – militärisch ein Vorteil für die Verteidiger.

Der stellvertretende Vewaltungsdirektor Saulius Petrauskas berichtet von Vorkehrungen in der Region Lazdijai. "Wir haben für unsere Unabhängigkeit von Moskau hart gekämpft. Es hat Tote in Litauen gegeben. Wir lassen uns unsere Freiheit und Demokratie nicht einfach wieder nehmen." Die Solidarität mit der Ukraine sei gigantisch: "Wir sind im Grunde genommen eine große Familie."

Auswandern oder kämpfen

Ein wenig weiter im Südosten liegt Druskininkai, ein Städtchen mit 15.000 Einwohnern, ein verträumter Kurort. Antanas Urbonas (31) ist der Kultur- und Tourismusmanager der Stadt. Russen und Belarussen, die noch 2019 mit knapp 300.000 Übernachtungen im Jahr den Großteil der Gäste stellten, würden in den nächsten Jahrzehnten wohl nicht mehr zur Kur kommen. "Wir können ja auch nicht zulassen, dass sich unter unsere Gäste aus der Ukraine oder aus Israel Kriegsverbrecher aus Russland mischen. Das ist ganz undenkbar." Druskininkai werde also verstärkt um Gäste aus Westeuropa und Übersee werben.

Sollte es auch in Litauen Krieg geben, solle seine Frau mit dem kleinen Sohn nach Australien auswandern, meint Urbonas. "Ich selbst habe mich der Schützenunion Šauliai angeschlossen. Ich habe noch nie eine Waffe in der Hand gehalten. Doch ich will lernen, uns zu verteidigen. Ich werde für Litauen kämpfen."

Wenige Kilometer hinter Druskininkai wird die Straße breiter, schließlich der Grenzübergang, kilometerlanger Stau. Direkt vor dem Schlagbaum unterhalten sich drei Lkw-Fahrer aus Belarus. Sie warten schon zwölf Stunden auf die Abfertigung. Wassilij bringt Schokolade nach Belarus, Mischa mehrere Tonnen Mais. "Wenn die Sanktionen so weitergehen wie bisher, wird es bald keinen Handel mehr geben", sorgt sich Wassilij. Iwan: "Dann werden wir arbeitslos." Mischa aber wirft ein: "Die Ukrainer hat es am schlimmsten getroffen! Die verlieren nicht nur die Arbeit, sondern vielleicht sogar ihr Leben." Das Wort "Krieg" nimmt keiner der drei in den Mund. Sie schauen betreten zu Boden, als hätten sie schon zu viel gesagt. (Gabriele Lesser, 31.3.2022)